21.06.2021
"Wir haben fast drei Tage auf dem Boot verbracht, ohne Essen oder Trinken." Überlebende erzählen vom Versuch, die tödlichste Migrationsroute der Welt zu überstehen.

Von 10. bis 12. Juni waren unsere Teams an Bord des von Ärzte ohne Grenzen gecharterten Schiffes Geo Barents im Dauereinsatz: 410 Menschen von sieben verschiedenen Booten, die im zentralen Mittelmeer in Seenot geraten waren, wurden vor dem Ertrinken gerettet. Alle Männer, Frauen und Kinder, darunter eine schwangere Frau und 91 unbegleitete Minderjährige, konnten sicher an Bord der Geo Barents gebracht werden. 

Wir haben fast drei Tage auf dem Meer verbracht, ohne etwas zu essen oder zu trinken.

Überlebender, Elfenbeinküste

Drei der Überlebenden an Bord erzählten uns ihre Geschichten von den Versuchen, die tödlichste Migrationsroute der Welt zu bewältigen. Es sind erschütternde Geschichten, die schwer zu ertragen sind. Umso wichtiger ist aber, dass diese Geschichten erzählt und gehört werden. Um darauf aufmerksam zu machen, welches Leid Tag für Tag auf dem Mittelmeer verursacht wird:

„Ich konnte nicht mehr atmen“

"Wir haben fast drei Tage im Boot auf dem Meer verbracht, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Es war Abend, als wir die Stadt Zuwara in Libyen verließen. Die Kinder, die mit uns auf dem Boot waren, weinten die ganze Zeit. Zusammen mit anderen Männern war ich auf dem Unterdeck des Holzbootes. Ich konnte nicht mehr atmen. Wir hatten Benzinkanister. Der letzte war gerade leer, als das Boot von Ärzte ohne Grenzen ankam, um uns zu retten."

- Überlebender, Elfenbeinküste

 

Rotation 1 Life on deck
Avra Fialas/MSF
Gerettete werden unseren Teams an Bord der Geo Barents medizinisch versorgt.

„Mit allem, was sie fanden, schlugen sie auf uns ein“

"Auf dem Boot, mit 75 anderen Personen auf dem Meer, sahen wir ein Flugzeug über uns. Es machte Fotos. Zwei Flugzeuge. Ein weißes am Morgen und ein graues in der Nacht. Kurz danach kam ein Boot.

Die libysche Küstenwache kam und brachte uns zurück. 

Wir wurden in ein Lager zurückgebracht. Ich weiß nicht, wo wir waren, vielleicht in Tripolis. Sie haben uns alle geschlagen. Wir waren in einem Raum, wo wir im Dunkeln gehalten wurden und wir den Kopf nicht heben durften. Wer den Kopf hob, wurde noch mehr geschlagen. Deswegen weiß ich nicht, wie viele Leute mit mir zusammen festgehalten wurden. Alle Sudanesen wurden am selben Ort festgehalten. Ich denke andere Nationalitäten wurden woanders festgehalten.

Abends haben sie uns wieder geschlagen. Dann brachten sie uns in einen kleineren Raum, wo wir zwei Tage lang sitzen mussten. Nach den zwei Tagen brachten sie uns mit Autos an einen größeren Ort. Es war ein größerer Raum, in dem mehr als 700 Menschen waren. Der Raum hatte keine Fenster. 

Mit allem, was sie fanden, schlugen sie auf uns ein. Auf den Kopf, auf die Arme, auf die Beine - überall, wo sie einen erwischen konnten, wenn die Menschen nicht so saßen, wie sie wollten oder den Kopf erhoben. Die Leute, die neben mir saßen, hatten gebrochene Beine, Arme und sogar gebrochene Schädelknochen von den Schlägen. 

Nach 19 Tagen in Dunkelheit und Schlägen bat ich die Wachen, mich zu befreien. Mein Bein schmerzte, weil ich mir eine Infektion eingefangen hatte. Sie sagten mir, wenn ich nicht bezahle, würde ich hier bleiben und sterben. Meine Familie im Sudan schaffte es, mir etwas Geld zu schicken. 
Als ich draußen war, wusste ich nicht, wohin ich gehen sollte. 

In Zuwara waren wir an jenem Freitag, als wir die Fahrt über das Meer antraten, 100 Personen. Fast zwei Tage später fand uns das Boot der Geo Barents. Unser Wasser und unser Essen waren längst aufgebraucht und nur noch ein paar Kanister Treibstoff befanden sich an Bord des überfüllten Bootes, bevor wir gerettet wurden."

- Überlebender, 23, Darfur, Sudan
 

Rotation 1 Rescue 4
Avra Fialas/MSF
Ein in Seenot geratenes Boot mit 54 Menschen an Bord

"Zwei meiner Freunde starben"

"Mein dritter Versuch, das Meer zu überqueren, war von Zawiya aus, im August 2020. Wir waren etwa 50 Personen in einem Holzboot. Um 1:30 Uhr morgens sind wir zum Strand gegangen und haben uns auf den Weg gemacht.

Wir waren eineinhalb Tage auf See. Dann wurden wir von der libyschen Küstenwache aufgegriffen. Sie brachten uns zurück nach Al Khoms.

Ähnlich wie bei den letzten beiden Malen, als ich zurückgebracht wurde, schlugen und prügelten die Küstenwachen auf uns ein.

Als wir im Hafen von Al Khoms ankamen, versuchten meine Freunde und ich zu fliehen. Die Polizei eröffnete das Feuer auf uns und zwei meiner Freunde starben. Drei andere wurden verletzt. Sie waren meine Freunde, aber was sollte ich tun? Ich musste weglaufen. Wenn sie mich erwischt hätten, hätten sich mich getötet."

- Überlebender, Darfur, Sudan

Video: Wo ist Kamil?

Ein weiterer Überlebender erzählt die Geschichte von seinem Freund Kamil: 

Die tödlichste Migrationsroute der Welt in Zahlen

In nur 6 Monaten im Jahr 2021 wurden mehr als 12.794 Migrant:innen und Geflüchtete abgefangen und von der von der EU unterstützten libyschen Küstenwache nach Libyen abgeschoben. Diese Zahl ist alarmierend. Sie signalisiert, dass im ersten Halbjahr 2021 die Zahl der abgefangenen und nach Libyen zurückgeführten Personen bereits die Gesamtzahl, der im gesamten Jahr 2020 zurückgebrachten Personen (11.891), überschritten hat.

Außerdem ist die Zahl alarmierend, wenn man liest, was mit den Menschen, die zurück nach Libyen gebracht werden, geschieht. Viele von ihnen werden nicht mehr die Möglichkeit haben, ihre Geschichten zu erzählen. Mehr als 500 Menschen starben in den ersten Monaten dieses Jahres bereits auf der gefährlichen Überfahrt von Libyen nach Europa.