Kommentar von International Bloggers
23.05.2022
Am 15. April 2022, stürmten israelische Streitkräfte das Al-Aqsa-Gelände in Jerusalem und verletzten über 150 Palästinenser:innen. Unser Unfallchirurg Carlo Brugiotti begutachtete und stabilisierte sie.

Es war 6:30 Uhr am Morgen. Ich hörte die Stimmen meiner Kollegen Andrea und Otero, die sich vor meinem Zimmer unterhielten. Es war klar, dass etwas passiert war. Andrea sagte mir, dass die Palästinensische Rothalbmondgesellschaft (PCRS) angerufen hatte.

Wir mussten sofort los.

Das Team

Andrea ist ein italienischer Notarzt, Otero ein spanischer Intensivmediziner und Anästhesist, und ich bin Unfallchirurg. Gemeinsam gehören wir zum Trauma-Team von Ärzte ohne Grenzen in Hebron, in den besetzten palästinensischen Gebieten.

An jenem Freitag machten wir uns zusammen mit zwei anderen Ärzt:innen von Ärzte ohne Grenzen auf den Weg, um das PRCS-Team bei der Beurteilung und Stabilisierung von Verletzten zu unterstützen.

Innerhalb von Minuten

Im Stadtteil Wadi al-Joz hatte das PRCS einen Trauma-Stabilisierungspunkt eingerichtet, um die Patient:inen einzuteilen. Einige Menschen sollten von PRCS auf dem Al-Aqsa-Gelände behandelt werden, während andere mit schwereren Verletzungen per Krankenwagen zu unserer Traumastation oder direkt ins Krankenhaus transportiert werden sollten.

Innerhalb weniger Minuten traf der erste Krankenwagen ein. Der Patient hatte eine große, blutende Kopfwunde, wo die israelische Polizei ihn geschlagen hatte.

Dann fuhren zwei weitere Krankenwagen vor.

Bei einem der Patient:inen handelte es sich um ein junges Mädchen, das von einem Gummigeschoss in den Rücken getroffen worden war - ein Trauma durch stumpfe Gewalteinwirkung, das zu Rippenbrüchen oder anderen Knochenbrüchen hätte führen können. Wir untersuchten ihre Lunge mit einem Ultraschall, und zum Glück war sie in Ordnung.

Carlo Brugiotti

Ich dachte daran, wie schrecklich ihr Erlebnis gewesen sein musste und wie lange die Erinnerungen an die Gewalt sie begleiten würden.

Wir gingen weiter zu einem anderen Patienten mit einer Wunde am unteren Rücken. Er war mit einem Schlagstock geschlagen worden und hatte starke Schmerzen. Er konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Wir vermuteten eine Fraktur der Wirbelsäule. Nachdem wir ihn stabilisiert hatten, beschlossen wir, ihn zum Röntgen in das nächstgelegene Krankenhaus zu bringen. Wie hart die Schläge gewesen sein mussten...

Trauma

Plötzlich fiel das Mädchen mit der Gummigeschossverletzung zu Boden und schien bewusstlos zu sein. Ihre Vitalzeichen waren normal, aber sie zitterte wie Espenlaub. Sie hatte eine Panikattacke. Otero gab ihr Medikamente, um sie zu beruhigen. Ich dachte daran, wie schrecklich ihr Erlebnis gewesen sein musste und wie lange die Erinnerungen an die Gewalt sie begleiten würde. 

Wir sahen einen anderen Patienten, der von einer Betäubungsgranate im Gesicht verbrannt wurde. Diese Waffe ist dafür konzipiert, einen Lichtblitz zur Blendung zu erzeugen. Wenn sie aber aus nächster Nähe abgefeuert wird, kann sie schreckliche Verbrennungen verursachen.

Zwei weitere Kinder kamen an. Eines hatte eine große Wunde am Kopf. Es wurde geschlagen. Andrea kümmerte sich um den Jungen, während Otero und ich das andere Kind untersuchten, das eine Wunde ganz in der Nähe seines rechten Auges hatte. Es konnte sich nicht erinnern, wie es verletzt wurde. Wir vermuteten einen Bruch des Jochbeins und brachten ihn ins nächste Krankenhaus.

Kritische Zustände

Gegen 10 Uhr erhielten wir vom PRCS eine Mitteilung, dass die Gesamtzahl der Verletzten auf 150 gestiegen war. Mindestens fünf von ihnen befanden sich in einem kritischen Zustand und wurden in einen Operationssaal gebracht, um die schweren Gesichtsverletzungen zu behandeln, die sie durch Gummigeschosse erlitten hatten. Diese Geschosse, die oft einen Metallkern haben, können verletzen, entstellen und sogar töten.

Carlo Brugiotti

Es kamen immer wieder Patient:innen, wie Wellen.


Wir versuchten, sie so schnell wie möglich zu stabilisieren, um die Betten für die Neuankömmlinge zu räumen. Manchmal schien es so, als ob keine Krankenwagen mehr kämen, dann kamen plötzlich wieder zwei oder drei auf einmal.

Die unglaublichen Fähigkeiten und die Erfahrung der PRCS-Sanitäter:innen, Krankenpfleger:innen und Fahrer:innen in der Bewältigung solcher Notfälle haben diesen Einsatz erst möglich gemacht. 

Eine Pause

Um 11:30 Uhr wurden die Einlieferungen schließlich weniger. Alle Verletzten waren versorgt und es war Zeit für eine Pause. Andrea, Otero und ich beschlossen, in der Nähe des Feldlazaretts auf dem Ölberg einen Kaffee trinken zu gehen.

Auf dem Weg dorthin eröffnete sich uns ein unglaublicher Anblick: Ein wunderbarer Blick auf Jerusalem. Wir standen da und fragten uns, wie ein so prächtiger Ort die Szenen der Gewalt hervorbringen konnte, die wir in diesen Stunden miterlebt hatten.

Der Wolf

Egal, wie viele Traumapatient:innen man sieht oder in welchen Kriegsgebieten man arbeitet: Jedes Mal, wenn man eine Person behandelt, die von einem anderen Menschen gewaltsam verletzt wurde, ist es unmöglich, nicht einen tiefen Schmerz in der Seele zu spüren.

Das römische Sprichwort von Plautus hatte vor zweitausend Jahren Recht: "Homo homini lupus" - der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.