Kulturelle Identität oder: Die Angst vorm weißen Haus

Kommentar von Ursula Wagner
10.12.2014
Kulturelle Identität oder: Die Angst vorm weißen Haus

Die Angst vorm weißen Haus hat nichts mit den USA, mit Barack Obama zu tun, auch wenn scheinbar allen „Amrika“ (so hört es sich für mich an) ein Begriff ist, also zumindest mehr Begriff als Europa und gleich bekannt wie Paris. Wir sind wieder mal im Dorf, das seit 1985 in dieser Form besteht. Die DorfbewohnerInnen sind eigentlich NomadInnen aus der Gegend von Abéché, und sind aber wie viele andere mit ihnen in besagtem Jahr aufgrund einer großen Hungersnot weiter südlich in die Salamat-Region geflüchtet.

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Nomaden neben der durch die Regenzeit verwüsteten Straße – Die Dörfer im Outreach sind in der Regenzeit von Juli bis September aufgrund der Straßenverhältnisse nicht erreichbar (c) Ursula Wagner/MSF

Hier sind sie nun mitsamt ihrem Vieh (Rinder, Ziegen, Hühner) sesshaft geworden, wohnen in Tukuls, bzw. bin ich mir nicht sicher, ob im anderen Teil des Dorfes, den wir nicht besucht haben, nicht doch noch Zelte stehen. Denn beim Interview mit einer Frau stellt sich heraus, dass sie einfach Angst vor Gesundheitszentren und Spitälern hat. Auf meine Nachfrage hin, worin diese Angst genau besteht, meint sie, es sei einfach das Faktum, dass es ein „weißes Haus“. Ich bin etwas verwundert, weil richtig weiße Wände habe ich hier eigentlich bisher nicht gesehen, eher beige vergilbt oder irgendeine abgeblätterte Farbe. Aber gut, als Anthropologin weiß ich über die kulturell unterschiedliche Wahrnehmung von Farben und deren emotionale Besetzung. Daher hake ich nach, welche Farbe das Haus denn haben müsse, damit sie keine Angst davor mehr habe. Aber nein, es liegt einfach dran dass es ein Haus sei, das sei sie als Nomadin nicht gewohnt. Bemerkenswert ist, dass sie sich nach 30 Jahren Sesshaftigkeit noch immer als Nomadin sieht. Aber gut, ich sehe mich ja nach zwanzig Jahren Wien auch immer noch als Oberösterreicherin, von dem her kann ich das irgendwie verstehen. Denn wie war das noch mal mit der Definition von Kultur? Es geht ums "belonging"!

Bewegte Freizeit in Am Timan

Willkommen in der Welt der Akronyme! Nachdem ich mich nun, wie es in der NGO-Welt üblich ist, tagtäglich mit Abkürzungen herumschlagen muss, habe ich kurzerhand auch eine erfunden: "FmB" - Freizeitangebot mit Bewegung, zu unterscheiden von "FoB" - Freizeitangebot ohne Bewegung, z.B. Fernsehen, das liebste FoB meiner afrikanischen Kollegen. Es mutet wohl etwas früh an, das Kapitel zu FmB in Am Timan bereits nach wenigen Wochen Aufenthalt hier zu schreiben. Aber so wie Essen (dazu komme ich später) ist Bewegung hier ein Thema. Und Fakt ist, dass alle FmB hier in kürzester Zeit recherchiert werden konnten. Das ist die schlechte Nachricht, die gute ist: Es gibt Beständigkeit. Beginnen wir mit den Angeboten, die eine gewisse Sympathie mit mindestens einem weiteren internationalen Kollegen voraussetzen, da wir ja außerhalb der Mauern unserer Unterkunft alles nur in Begleitung machen dürfen. Auch diese Straße entlang zum Spital gehen, die in die Hauptstraße (nächstes Bild) mündet:

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Die Straße entlang zum Spital (c) Ursula Wagner/MSF

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Hauptstraße von Am Timan (c) Ursula Wagner/MSF

Als FmB 1 lockt der Spaziergang zum lokalen Markt, auf dem alle Dinge, die man oder frau für den täglichen Bedarf benötigt, tagein tagaus (freundlicherweise auch sonntags) erstanden werden können. Die Qualität der Ware ist gleichbleibend niedrig, das Gemüse ist lokal, der Großteil der Waren stammt wohl wie viel anderer Ramsch weltweit aus China, auch die hübschen Email-Schüsseln. Die Teppiche hingegen, wurde mir gesagt, seien türkische Ware. Ich bin ja etwas enttäuscht, dass ich keine schönen handgewebten Schals und Stoffe finde, handgefärbt und mit jahrhundertealten, bedeutungsschwangeren Symbolen bestickt. Da hab ich wohl etwas zu viel Weltladenromantik im Kopf (und eine Idee mehr, was Am Timan braucht, wenn dann endlich der nahegelegene Zakouma Nationalpark als Tourismusdestination erschlossen ist). Das Herumirren im Zouk und das Feilschen machen dennoch Spaß, zudem die Händler eine angenehme Zurückhaltung an den Tag legen, die ich z.B. am Wiener Naschmarkt vermisse.

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Der lokale Markt in Am Timan (c) Ursula Wagner/MSF

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Reis in chinesischen Emailschüsseln (c) Ursula Wagner/MSF

Die zweite FmB ist hier den Männern vorbehalten (Frauen dürfen netterweise zuschauen): samstags auf einem der vielen Fußballfelder kicken. In Ermangelung von Alternativen, bzw. besser gesagt attraktiven Alternativen - weil ich kann ja auch Samstagnachmittag arbeiten oder in der Unterkunft herumhängen, Internet surfen, lesen oder bei 35 Grad im Schatten eine Art afrikanisches Bikram Yoga machen - finde ich mich daher das erste Mal seit meinem 16. Lebensjahr auf einem Fußballfeld wieder. Damals war ich von jugendlicher Verliebtheit getrieben, nun sehe ich etwas gelangweilt meinen Kollegen zu, wie sie sich am Spielfeld mit den Einheimischen vermischen. Die Luft ist noch staubgeschwängerter als sonst und ich ziehe weiter zur Erkundung von FmB 3, das gleichzeitig mein persönliches Highlight darstellt. Hinter ein paar Bäumen taucht der nun ins nachmittäglich warme Licht getauchte Fluss auf.

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Der Bar Ahzoum Fluss, der in wenigen Wochen zum Wadi ausgetrocknet sein wird (c) Ursula Wagner/MSF

Boote ankern am Ufer, und einige Frauen durchwaten ihre Lasten am Kopf balancierend das derzeit nur knietiefe Wasser, andere kauern an den Ufern, Kinder spielen. Die Szene hat etwas Beruhigendes und Erhebendes für mich an sich. Vielleicht liegt es daran, dass ich in dieser an sich extrem flachen Gegend einmal ein paar Meter hinunter in das Flussbett und den Fluss stromauf- und -abwärts blicken und sogar daran entlang spazieren kann. Vielleicht liegt es am satten Grün der Bäume, das sich schön mit dem rotbraunen Lehm des Flussbetts kontrastiert. Vielleicht auch einfach, weil es hier angenehm ruhig ist, kein Fernseher, kein knatternder Generator, kein Eselsgeschrei stört die Idylle, nur Vogelzwitschern ist zu hören.

Das Singen der Vögel begleitet mich auch bei FmB Nummer 4, meiner täglichen Yoga-Routine um 5:30 Uhr - einer Routine, von der ich in Wien nur träumen kann. Müde von den langen Arbeitstagen und in Ermangelung von Verführungen wie Milongas oder Kulturprogramm gehe ich hier früh schlafen und werde um 4:30 Uhr vom Singen des Imams geweckt. Eine Stunde später, wenn es hell wird, bin ich daher mehr als munter genug, Sonnengrüße zu machen, bis dann wirklich die ersten Sonnenstrahlen über die Mauer mit dem Stacheldraht blinzeln.

FmB Nummer 5 geht auf meinen kamerunischen Kollegen Collins zurück, mit ihm hat die grenzgeniale Idee wohl ein Ende: Er überließ nicht alles Terrain den Ziegen, sondern ließ sich mehrmals pro Woche zur Flugzeuglandebahn fahren, die er einmal rauf- und runterlief. Ich schreib dies in der Vergangenheitsform - nicht, weil er von einem der wenigen Flugzeuge erwischt wurde (das wär schon ein großes Pech, so selten wie die UNHAS-Flugzeuge hier fliegen), sondern weil Collins diese Woche EoM (End of Mission) gefeiert hat.

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Mein Kollege Collins, wie er mehrmals pro Woche die Flugzeuglandebahn auf- und ablief (c) Ursula Wagner/MSF

Und nun breaking news dieser Woche: Dank des Einsatzes unseres Projektkoordinators gibt es jetzt die ultimative FmB: wir haben drei Fahrräder zur Verfügung und die Sicherheitslage erlaubt, dass wir sie verwenden! Die erste Erkundungsfahrt fand am Wochenende statt, hier mit drei erwartungsvoll-glücklichen Gesichtern von Elisa, Augustin und mir vor der Abfahrt. Das Gefühl nach so vielen Wochen eingeschränkter Bewegung auf einem Fahrrad durch die Stadt und schließlich zum Fluss zu fahren, lässt sich schwer in Worte fassen. Ich versuche es daher gar nicht, da es eindeutig meine literarischen Fähigkeiten übersteigt. Aber eine kleine Bemerkung: Das ist wohl einer der großen persönlichen Effekte eines Hilfseinsatzes – dass man ganz einfache Dinge unglaublich schätzen lernt.

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Wir haben Fahrräder! (c) Ursula Wagner/MSF

Bisherige Beiträge von Ursula Wagner lesen:

Dorfgeschichten
Bienvenue à Am Timan
Gedanken am Weg ins Projekt

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