Ärzte ohne Grenzen unterzeichnet italienischen “Verhaltenskodex” nicht, wird aber weiter Leben im Mittelmeer retten

Mehrere der Verpflichtungen, die im Verhaltenskodex verankert sind, können zu einem Rückgang von Effizienz und Kapazität der derzeitigen Such- und Rettungseinsätze führen, was gravierende humanitäre Konsequenzen nach sich ziehen würde.
01.08.2017
SAR activities June 2017
Andrew McConnell/Panos Pictures
Wooden boats filled with people are rescued by MSF Vos Prudence in the sea off the coast of Libya, on June 9, 2017. MSF vessel Vos Prudence rescued a total of 726 people from the Mediterranean Sea over 2 days on June 8th and 9th, including 52 children.

Ärzte ohne Grenzen hat am Montag das italienische Innenministerium formal darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir den vorgeschlagenen Verhaltenskodex für Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die Rettungsschiffe im Mittelmeer einsetzen, nicht unterzeichnen können. 

“Obwohl wir nicht imstande sind, den Verhaltenskodex in seiner derzeitigen Fassung zu unterzeichnen, setzt Ärzte ohne Grenzen bereits mehrere der enthaltenen Maßnahmen um – darunter auch die finanzielle Transparenz”, sagt Annemarie Loof, Leiterin der Einsätze bei Ärzte ohne Grenzen. “Wir werden die Such- und Rettungseinsätze unter der Koordination der Leitstelle für Seenotrettung in Rom (Anm.: Maritime Rescue Coordination Centre – MRCC) und in Übereinstimmung mit allen relevanten internationalen Gesetzen sowie dem Seerecht weiter fortsetzen.”

"Verhaltenskodex" könnte Effizienz der Such- und Rettungseinsätze behindern

Mehrere der Verpflichtungen, die im Verhaltenskodex verankert sind, können zu einem Rückgang von Effizienz und Kapazität der derzeitigen Such- und Rettungseinsätze führen, was gravierende humanitäre Konsequenzen nach sich ziehen würde. Die Vorschläge – speziell eine Bestimmung die festlegt, dass Schiffe die Überlebenden an einem sicheren Ort von Bord gehen lassen müssen, anstatt sie an andere Schiffe zu übergeben – stellen unnötige Limitationen der derzeit zur Verfügung stehenden Mittel dar. Ärzte ohne Grenzen hat seit dem Start der Rettungseinsätze Transfers von anderen Schiffen angenommen und manchmal auch selbst solche auf andere Schiffe durchgeführt. Solche Übergaben haben stets entweder auf die Bitte des MRCC in Rom, oder aber koordiniert durch das MRCC stattgefunden.

Das Hin- und Herfahren aller Rettungsschiffe zu den Häfen, in denen die Geretteten von Bord gehen, wird zu einer geringeren Präsenz von Rettungsschiffen in der Such- und Rettungszone führen, was eine Abnahme der ohnehin unzureichenden Rettungskapazitäten nach sich ziehen würde. Dies würde zu einer Zunahme der Todesfälle durch Ertrinken führen. Weitere Elemente im Verhaltenskodex verursachen unnötige Verwirrung darüber, wen man zu welchem Zeitpunkt zu kontaktieren hat. Auch dies könnte Rettungseinsätze verzögern, bei denen Minuten den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten können.

Bewaffnete Polizei an Bord: Bruch der fundamentalen Prinzipien der humanitären Nothilfe

Zwar stellt die überarbeitete Version des Verhaltenskodex klar, dass die Polizei “ohne Vorurteil der humanitären Aktivität” agieren werde. Dieser Passus lässt jedoch viel Spielraum für Interpretation offen; das Ersuchen, die Polizisten an Bord nicht zu bewaffnen wurde jedoch nicht übernommen. Die Präsenz von bewaffneten Polizisten an Bord und die Verpflichtung für humanitäre Helfer, Beweismaterial zu sammeln, stellen einen Bruch der fundamentalen humanitären Prinzipien der Unabhängigkeit, Neutralität und Unparteilichkeit dar. Das würde humanitäre Hilfsorganisationen den politischen Interessen eines EU-Mitgliedsstaates unterstellen. Ärzte ohne Grenzen kann das nicht akzeptieren, weil dies weltweit negative Auswirkungen für unsere Nothilfe hätte und den Zugang zu Menschen in Not erschweren, sowie die Sicherheit unserer Teams gefährden würde.

Die Verantwortung, Such- und Rettungseinsätze auf hoher See durchzuführen, liegt bei Staaten. Rettungseinsätze von Nichtregierungsakteuren wie Ärzte ohne Grenzen sind lediglich eine temporäre Maßnahme, um die Lücke zu schließen, die Staaten hinterlassen indem sie diese Verantwortung nicht wahrnehmen. Die EU-Staaten müssen einen der Seenotrettung gewidmeten, proaktiven Such- und Rettungsmechanismus einrichten, um Italien zu unterstützen. Die EU muss die lobenswerten Anstrengungen Italiens anerkennen, Leben im Mittelmeer zu retten, während andere Mitgliedsstaaten nur unzureichendes Engagement an den Tag legen.

35 Prozent der Rettungseinsätze im ersten Halbjahr 2017 von NGOs durchgeführt

Während des ersten Halbjahres 2017 haben NGOs 35 Prozent der Rettungseinsätze im Zentralen Mittelmeer durchgeführt. Ärzte ohne Grenzen hat 16.000 Menschen gerettet und in Sicherheit gebracht.

Seit dem Beginn der Rettungseinsätze im Jahr 2015 hat Ärzte ohne Grenzen alle internationalen, nationalen und maritimen Gesetze befolgt, die im Mittelmeer Geltung haben. Die Hilfsorganisation arbeitet darüber hinaus nach einem eigenen Verhaltenskodex: der Charta von Ärzte ohne Grenzen, die auf den medizinischen und auf den humanitären Prinzipien basiert.