Jesiden im Irak: Zahlreiche Selbstmorde und Selbstmordversuche

09.10.2019
Ärzte ohne Grenzen warnt anlässlich des Internationalen Tags der psychischen Gesundheit vor einer Krise im Bereich der psychischen Gesundheit unter der jesidischen Gemeinschaft im Bezirk Sinjar.
Mental Health testimonies
Emilienne Malfatto
Amina Ismail Elias, 20, poses in her house on Mount Sinjar on September 3rd, 2019. « I am very very depressed. Medication makes me sleepy to I stopped taking the pills. I didn’t go to school at all, don’t know how to read or write. I don’t do anything, not even house chores. About 20 days ago, I tried to kill myself by cutting my wrists. When we were IDPs in Kurdistan I tried to set myself on fired and to get killed by a car. Why? I don’t really know. I am depressed. It started six years ago when one of my uncles was killed. Sometimes I faint and remain unconscious. I am always falling. I have pain in my skull from falling so much. Sometimes, I sit like that, and stay like that for hours. In 2014, we had to flee, but I don’t remember anything from that time. I blocked all the memories. Whenever I fight with someone, especially my father, I think about suicide. I just want to be like before, to be normal. I would give half of my lifetime to be normal. » ©Emilienne Malfatto

Die internationale medizinische Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) warnt vor einer Krise im Bereich der psychischen Gesundheit unter der jesidischen Gemeinschaft im Bezirk Sinjar  im nordwestlichen Irak.

Zwischen April und August 2019 hatten 24 Patientinnen und Patienten, die in die Notaufnahme des von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Spitals von Sinuni gebracht wurden, Selbstmordversuche unternommen – sechs von ihnen starben vor der Ankunft oder konnten nicht mehr gerettet werden. Von den 24 Personen waren 46 Prozent unter 18 Jahre alt, die jüngste war ein 13-jähriges Mädchen, das sich erhängt hatte und bei der Ankunft in der Notaufnahme tot war. 54 Prozent waren Frauen oder Mädchen, vier starben an Selbstverbrennung. Andere hatten versucht, sich durch Selbstverletzung an den Handgelenken, Einnahme von Gift, Überdosierung von Medikamenten oder mit Schusswaffen das Leben zu nehmen.

Die kleine Stadt Sinuni war für die lange verfolgte irakische Minderheit der Jesiden, die in der Region verblieben, zum Lebensmittelpunkt geworden. Seit Dezember 2018 bietet Ärzte ohne Grenzen hier psychotherapeutische Behandlungen an. Seither wurden 286 Personen in das Programm aufgenommen, von denen sich 200 noch heute in Behandlung befinden. Die häufigste Diagnose sind Depressionen (40 Prozent), gefolgt von Konversionsstörungen (18 Prozent) und Angststörungen (17 Prozent). Ebenfalls diagnostiziert wurden einige Persönlichkeitsstörungen sowie posttraumatische Belastungsstörungen (3 Prozent). Obwohl das Psychotherapieangebot von Ärzte ohne Grenzen in der Region in den vergangenen Monaten ausgebaut wurden, sind die Teams inzwischen komplett überlastet und führen eine Warteliste.

Dringend mehr Investitionen in die psychische Gesundheitsversorgung nötig

Anlässlich des Welttages der psychischen Gesundheit am 10. Oktober fordert Ärzte ohne Grenzen eine Erhöhung der internationalen und nationalen Investitionen in die psychische Gesundheitsversorgung - nicht nur für den Bezirk Sinjar sondern für den gesamten Irak, der noch immer stark von jahrelangen brutalen Kriegen und wirtschaftlicher Instabilität geprägt ist. 

„Unsere erste Umfrage zur psychischen Gesundheit im Jahr 2018 in Sinuni ergab, dass 100 Prozent der befragten Familien mindestens ein Mitglied hatten, das entweder mäßig oder schwer an einer psychischen Erkrankung litt“, so Dr. Marc Forget, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen im Irak. Der Bedarf an psychotherapeutischer Versorgung wurde von den Behörden bestätigt. „Als wir uns mit dem leitenden Arzt des Spitals von Sinjar, der stark zerstörten Stadt auf der anderen Seite des Sinjar-Berges, trafen, sagte uns dieser, dass alle im Bezirk eine psychische Betreuung benötigten, auch er selbst. Es passte zu dem, was wir zu Beginn unserer Arbeit bald erkannten: dass wir es mit einer schweren Krise im Bereich der psychischen Gesundheit zu tun hatten, und dass dies direkt mit dem kollektiven Trauma zusammenhing, das die Jesiden kurz zuvor erfahren hatten.“

Viele Jesiden wollen nicht in ihre Heimat zurückkehren

Im August 2014 griff der Islamische Staat (IS) die in der Region lebende religiöse Minderheit der Jesiden an. Es folgte eine Serie von Morden, Vergewaltigungen, Entführungen und Versklavungen, aus der eine Massenmigration resultierte, hauptsächlich in Lager in die angrenzenden kurdischen Gebiete. Die UNO hat die Gräueltaten des IS in der Region Sinjar als Völkermord bezeichnet. Während die Region Sinjar vor mehr als vier Jahren zurückerobert wurde, kehrten die Geflohenen nur langsam zurück. Bis heute ziehen es viele jesidische Familien vor, im irakischen Kurdistan zu bleiben, anstatt in ihre Heimat zurückzukehren. Der Grund dafür liegt nicht nur in der Zerstörung der Häuser und Dörfer, die mit Landminen übersät sind und über keine Grundversorgung wie Wasser oder Strom verfügen, sondern auch im Trauma, das viele Jesiden heute mit ihrer Heimat verbinden.

Ärzte ohne Grenzen unterstützte seit Dezember 2018 das Spital von Sinuni zunächst in den Bereichen Notfallversorgung und Geburtshilfe und erkannte schnell, dass bei der psychischen Versorgung ein enormer ungedeckter Bedarf bestand. In der Folge hat die Organisation die psychologische Hilfe im Spital Sinuni ausgebaut. Zudem wurden Gruppensitzungen und mobile psychiatrische Kliniken für die Vertriebenen am Berg Sinjar eingeführt.

Seit Anfang 2019 haben die Teams von Ärzte ohne Grenzen neben der psychischen Versorgung 9970 Behandlungen in der Notaufnahme durchgeführt, 6390 Menschen stationär behandelt und 475 Frauen dabei unterstützt, ihre Babys sicher zur Welt zu bringen.