Eindrücke aus Port-au-Prince (Sechster und letzter Teil)

01.02.2010
Isabelle Jeanson von Ärzte ohne Grenzen beschreibt ihre Erlebnisse vom 01.02.2010. An ihrem letzten Tag erzählt sie wie schwer es ist Abschied zu nehmen.

Themengebiet:

Isabelle Jeanson
MSF
19.01.2010: Isabelle Jeanson berichtet regelmäßig aus Haiti vom Hilfseinsatz von Ärzte ohne Grenzen nach dem Erdbeben.

Montag, 1. Februar, Port-au-Prince

Drei Wochen nach dem verheerenden Erdbeben auf Haiti ist es Zeit zu gehen für Isabelle Jeanson, Kommunikationsverantwortliche von Ärzte ohne Grenzen. Isabelle ist traurig, all die Patienten zurückzulassen, die sie getroffen hat, und berührt von der Würde und Solidarität, die die Haitianer angesichts dieser Katastrophe bewiesen haben. Sie weiß aber auch, dass ihre Zeit in Haiti zwar zu Ende geht, die medizinischen Teams von Ärzte ohne Grenzen aber weiter im Einsatz sind und die dringend benötigte medizinische Versorgung für die Menschen gewährleisten.

Ich habe mich vor diesem Tag gefürchtet, denn es ist nicht leicht, Abschied zu nehmen. Ich hab so viel Zuneigung und Respekt für die Haitianer entwickelt, die angesichts dieser enormen Not so viel Würde zeigen.

Nächste Woche um diese Zeit werde ich bereits wieder in meinem bequemen Büro sitzen und mir über die Menschen Gedanken machen, die ich getroffen habe und die mich zutiefst beeindruckt haben. Menschen wie zum Beispiel die kleine Gabrielle oder die süße, 19-jährige Synthia, die fiebrig mit ihrem verwundeten Bein in unserem Spitalsbett liegt. Sie hat am 4. Jänner ein Baby zur Welt gebracht, aber das kleine Mädchen starb ein paar Tage nach dem Erdbeben, weil, wie sie mir sagt, sie frierend auf der Straße übernachten mussten. Ich werde auch an St. Amise und ihr vier Monate altes Baby denken. Auch sie wartet in ihrem Spitalsbett, mit ihrem verletzten Bein, während ihre anderen vier Kinder unter einem Leintuch auf der Straße leben. Ich kann Haiti verlassen, aber die Patienten, die ich getroffen hab, sind jeden Tag aufs neue mit ihrer harten Realität konfrontiert.

Unsere Teams weiten unsere medizinischen Programme nun aus. Wir haben mehrere Standorte in Port-au-Prince, Leogane und Jacmel, wo wir nicht nur chirurgische Behandlungen für die Verletzten, sondern auch Rehabilitation, Hauttransplantationen (demnächst), therapeutische Ernährung für unterernährte Kinder, Geburtshilfe, psychologische Beratung und Nachsorge für Hunderte unserer Patienten anbieten. Die körperlichen Wunden werden mit der Zeit verheilen, aber die Wunden in ihrer Seele werden auch eine spezielle Therapie benötigen. Viele Menschen erzählen mir, dass sie nicht darüber nachdenken wollen, was passiert ist, weil sie den Schrecken nicht noch einmal durchleben wollen. Ich habe heute mit Elisabeth, einer Patientin, gesprochen, die durch das Beben stark verletzt wurde, aber auch depressiv ist. Sie war ruhig und verschlossen, zeitweise hat sie geweint. Der Schock, in den sie ihr Zustand versetzt, die Tatsache, dass sie die wenigen Dinge, die sie besessen hat, und ihr Zuhause verloren hat, sind zu viel für sie. Wie wird ihre Zukunft aussehen? Wo wird sie leben? Ich spüre die Grenzen der Unterstützung, dic ich ihr bieten kann. Wenn bei den Menschen der körperliche Heilungsprozess eingesetzt hat, werden sie Jobs und ein Zuhause brauchen, in dem sie in Sicherheit leben können.

Die Erkundungsfahrt von letzter Woche führte uns vor Augen, dass es Hoffnung für jene Menschen gibt, die Port-au-Prince verlassen haben: Die Solidarität in den kleinen Städten ist beeindruckend. Es gibt kostenlose medizinische Hilfe für die Erdbebenopfer, sowohl in der Dominikanischen Republik, als auch in Haiti. Ärzte stellen ihre Dienste kostenlos zur Verfügung, und Bürgermeister haben Busse organisiert, um Menschen aus Port-au-Prince abzuholen und nach Hause zu bringen. Das Schönste, das ich im Zuge dieser Katastrophe erlebt habe, ist die Solidarität zwischen den Menschen. Haitianer, die einander helfen, die ihr Leben riskieren, um Freunde oder Fremde aus den Trümmern zu bergen, die das wenige Essen teilen, das sie haben, die in Gebieten außerhalb der Stadt Dutzende obdachlos gewordene Menschen in ihren Häusern unterbringen, und die aufeinander aufpassen, wenn sie in den Straßen von Port-au-Prince übernachten. Es gibt außerdem Hoffnung in Form zahlreicher Organisationen, die helfen möchten, wo immer sie können. Bürgermeister haben hunderte Menschen angeheuert, um den Schutt aus den Straßen wegzubringen und um wieder ein bisschen Ordnung und Sauberkeit herzustellen. Und es gibt Menschen, die kleine Stände aufbauen, um Essen in den Notunterkünften der ganzen Stadt zu verkaufen. Das Leben muss weitergehen.

Mein letzter Wunsch ist, dass - lange nachdem das Scheinwerferlicht der Medien anderswo ist – wir, die wir Glück haben, Elizabeth, Synthia, Ste-Amise und Gabrielle nicht vergessen. Denn sie haben weiterhin die Last dieser Katastrophe zu tragen. Der einzige Grund, warum ich akzeptieren kann, sie zurückzulassen, ist zu wissen, dass zumindest unsere medizinische Hilfe solange weitergehen wird, wie die Menschen sie brauchen.