Haiti: Gesundheitsversorgung bei Wiederaufbau nicht ausreichend berücksichtigt

09.01.2015
5 Jahre nach dem verheerenden Beben von 2010 - Interview mit Landeskoordinator Oliver Schultz

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Julie Remy/MSF
Carrefour, Haiti, 17.01.2010: Eine Behelfsstation vor dem Gebäude des Krankenhauses in Carrefour. Am 12. Jänner 2010 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7.0 die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince. Mehr als 100.000 Menschen wurden verletzt, über 200.000 Todesopfer waren zu beklagen, eine Million Menschen wurden obdachlos.

Fünf Jahre sind vergangen, seit das verheerende Erdbeben im Jänner 2010 Haiti erschütterte. Rund drei Millionen Menschen waren betroffen – die Naturkatastrophe forderte laut Schätzungen der Behörden 220.000 Todesopfer. Doch wie ist heute die Lage in Haiti? Welche Gesundheitsprojekte betreibt Ärzte ohne Grenzen weiterhin vor Ort? Unser Landeskoordinator Oliver Schultz im Interview: 

Wie ist die medizinische und humanitäre Situation heute in Haiti?

Bevor wir die aktuelle Lage betrachten, müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass am 12. Jänner 2010 60 Prozent des ohnehin dysfunktionalen Gesundheitssystems mit einem Schlag zerstört wurden. Darüber hinaus wurden 10 Prozent der haitianischen Gesundheitsfachkräfte entweder getötet oder verließen in Folge das Land. Das Ganze war schlicht und ergreifend eine Katastrophe. Ärzte ohne Grenzen musste seine Aktivitäten in andere Einrichtungen verlegen, baute Behelfskrankenhäuser aus Containern, arbeitete in provisorischen Unterkünften und errichte eine aufblasbare Klinik. Wir waren 2010 bereits seit 19 Jahren in Haiti tätig und versuchten, Lücken im Gesundheitssystem zu schließen. Wir wussten, dass die meisten Gesundheitssysteme mit einem katastrophalen Vorfall wie diesem zu kämpfen haben würden, doch jenes in Haiti stand bereits unter normalen Umständen unter starkem Druck.

Im Grunde hat der überwiegende Teil der Menschen in Haiti noch immer keinen ausreichenden Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Universitätskrankenhaus HUEH („Hôpital de l’Université d’Etat d’Haiti“), das einzige öffentliche Krankenhaus im Land, das orthopädische Chirurgie anbietet, ist noch immer nicht vollständig wiederaufgebaut. Es kann daher nicht in voller Kapazität arbeiten. Darüber hinaus wurde zwar Geld für den Bau neuer Krankenhäuser investiert, doch einige – wie jenes in Carrefour – stehen leer. Der Grund dafür ist, dass niemand ausreichende Pläne entwickelt hat, damit genügend ausgebildete Fachkräfte sowie Medikamente und medizinisches Material zur Verfügung stehen oder Wartungsarbeiten durchgeführt werden können.

Inwiefern haben Spendengelder die Situation verbessert?

Es ist nicht unsere Aufgabe, die Ergebnisse des enormen Zuflusses an Spendengeldern ins Land insgesamt nachzuverfolgen. Es wurden zwar auf jeden Fall Fortschritte gemacht. Aber es ist sehr deutlich, dass die massiven Geldströme nach dem Erdbeben und das Vorhaben, ein „besseres“ Haiti wiederaufzubauen, der Gesundheitsversorgung keine entsprechende Priorität eingeräumt haben. Es ist zwar richtig, dass Ärzte ohne Grenzen durch Aktivitäten anderer Akteure und Wiederaufbaumaßnahmen die Nothilfe-Projekte nach dem Erdbeben langsam reduzieren konnte. Doch wir füllen weiterhin kritische Lücken im haitianischen Gesundheitssystem. Diese Lücken würden vielleicht nicht mehr bestehen, wenn manche der Wiederaufbau-Projekte besser geplant gewesen wären.

Was sind die Prioritäten von Ärzte ohne Grenzen in Haiti?

Ärzte ohne Grenzen betreibt weiterhin vier Krankenhäuser im Erdbebengebiet in Port-au-Prince und Léogâne. Sie bieten eine chirurgische Notfallversorgung, Geburtshilfe, die Versorgung von Neugeborenen und die Behandlung schwerer Brandwunden an. Trotz der starken Gewalt in den Städten, trotz häufiger schwerer Verkehrsunfälle, trotz des dramatischen Anstiegs von Unfallopfern – von 2002 bis 2012 eine Verdoppelung auf einen Unfalltoten pro 10.000 Einwohner – gibt es praktisch keine unfallchirurgische Versorgung. Im Jahr 2014 hat Ärzte ohne Grenzen allein im Krankenhaus in Tabarre 1.325 Patienten und Patientinnen mit Gewaltverletzungen und fast 6.500 mit Unfallverletzungen behandelt. Durchschnittlich wurden 130 Operationen pro Monat durchgeführt. Und trotz hoher Brandrisiken auf Grund der prekären Lebensbedingungen und der Tatsache, dass oft ganze Familien in einem Zimmer leben, betreibt Ärzte ohne Grenzen die einzige größere Station für Brandverletzungen im ganzen Land.

Daneben bleibt die Behandlung von Cholera-Kranken die zweite Priorität für Ärzte ohne Grenzen , bis das haitische Gesundheitsministerium diese Aufgabe übernehmen kann. Auch vier Jahre nach dem Ausbruch der Krankheit ist der Notfallschutz gegen Cholera weiterhin ungenügend.

Es sollte der haitianischen Regierung und den Geldgebern klar sein, dass es zumindest mittelfristig weitere Choleraausbrüche geben wird. Trotzdem ist das Notfallsystem im jüngsten Ausbruch von September bis Dezember schnell ins Stocken gekommen, weil die nötigen Gelder nicht schnell genug freigegeben wurden. Ärzte ohne Grenzen musste erneut einspringen, eigene Cholera-Behandlungszentren aufbauen und die Bemühungen des Gesundheitsministeriums, Erkrankte zu behandeln, finanziell unterstützen. Im gesamten letzten Jahr hat Ärzte ohne Grenzen mehr als 5.600 Patienten und Patientinnen mit Cholerasymptomen behandelt – mehr als die Hälfte davon während des Höhepunkts des Ausbruchs zwischen Mitte Oktober und Mitte November.

Es gibt derzeit kein angemessenes Notfallsystem, trotz des Nationalen Plans zur Eliminierung der Cholera. Die haitianischen Behörden müssen zusammen mit ihren internationalen Partnern einen Notfallschutz bereitstellen und rasch Cholera-Behandlungszentren in ihre Gesundheitseinrichtungen integrieren.

Was muss in Haiti noch getan werden?

Gesundheit und medizinische Versorgung sollten für die haitianischen Behörden und deren internationale Partner eine viel größere Priorität haben. Für Gesundheitsversorgung steht wenig Geld zur Verfügung, und generell ist im Gesundheitswesen ein Übergang von der akuten medizinischen Nothilfe hin zu stärker entwicklungspolitischen Ansätzen zu beobachten. Für den Aufbau eines funktionsfähigen Gesundheitssystems ist dies zwar unabdingbar, darf aber nicht zu Lasten der Kapazitäten gehen, die nach wie vor nötig sind, um auf aktuelle Krisen reagieren zu können. Finanzierungsmechanismen müssen in der Lage sein, im Falle einer akuten Krisensituation – wie zum Beispiel einem Cholera-Ausbruch – zeitnah Gelder zur Verfügung zu stellen. Außerdem ist mehr Kohärenz in der Planung des Wiederaufbaus erforderlich. Es darf nicht sein, dass Krankenhäuser gebaut werden, ohne dass feststeht, woher das Personal, die Ausrüstung und ein Budget für dieses Krankenhaus kommen soll, damit es in der Praxis dann auch tatsächlich funktioniert. Dies ist aber in der Vergangenheit mehrmals der Fall gewesen.

Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti im Jahr 2010 leistete Ärzte ohne Grenzen akute Nothilfe vor Ort. Die Teams behandelten in den ersten zehn Monaten rund 360.000 Patienten und Patientinnen, führten mehr als 15.000 chirurgische Eingriffe durch und verteilten mehr als 50.000 Zelte sowie 500.000 Kubikmeter Wasser pro Tag. Derzeit betreibt Ärzte ohne Grenzen vier Krankenhäuser in Haiti und bietet dort Unfallchirurgie und Geburtshilfe sowie die Notversorgung von Neugeborenen und die Behandlung von schweren Verbrennungen an. Seit 2010 hat die Organisation außerdem mehr als 204.000 Cholera-Kranke behandelt; die Sterberate lag bei unter einem Prozent. Ärzte ohne Grenzen ist seit 1991 in Haiti tätig.