Kolumbien: Die unsichtbaren Wunden der Gewalt

15.06.2015
Die klinische Psychologin Juliana Puerta ist verantwortlich für das psychosoziale Hilfsprogramm von Ärzte ohne Grenzen in Cauca und berichtet von vor Ort.

Themengebiet:

Mental healthcare in Colombia
MSF/Anna Surinyach
Cauca, Kolumbien, 2012: Ein mobiles Team von ÄRzte ohne Grenzen auf seinem Weg zu einem Gesundheitsposten in einem ländlichen Gebiet von Cauca. Entlegene Städte in dieser Pazifik-Region sind nur mit dem Boot erreichbar.

Seit mehr als 50 Jahren leidet die Zivilbevölkerung unter der tagtäglichen Gewalt des bewaffneten Konflikts in Kolumbien. Erst vor zwei Monaten war es im Bezirk Timba in der Region Cauca im Südwesten des Landes zu einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Regierungstruppen und der Widerstandsgruppe FARC gekommen – zehn Soldaten verstarben. Ein mobiles Team von Ärzte ohne Grenzen unterstützte die betroffene Bevölkerung mit psychosozialen Aktivitäten. Drei psychologische Teams sind in der Region ständig präsent, um bei Vorfällen in ländlichen Gebieten aktiv zu werden – denn in Gesundheitszentren ist kaum psychologische Hilfe verfügbar. Ende Mai kam es dann zu einer weiteren Militäroffensive und schweren Kämpfen in der Region Alto Río Guapi; zahlreiche Familien mussten aus ihren Dörfern fliehen.

Die klinische Psychologin Juliana Puerta ist verantwortlich für das psychosoziale Hilfsprogramm von Ärzte ohne Grenzen in Cauca und berichtet von vor Ort.

Rafael ist in seinen Vierzigern – ein ruheloser Mann mit einem disziplinierten Geist. Er hat den Konflikt, „der mich zum Glück nie berührt hat“, selbst erlebt. Damit will er sagen, dass er zwar keine „sichtbaren Wunden“, wie er sie nennt, erlitten hat. Doch Rafael hat bewaffnete Überfälle und Kämpfe aus erster Hand miterlebt und musste Freunde begraben, die der Gewalt zum Opfer fielen: „Unschuldige Zivilisten.“

„Die Kinder weinten viel, sie wollten nicht mehr essen.“

Rafael lebte auf seinem Land mit seiner Frau, fünf Kindern und einem Enkelsohn. Ihr Dorf liegt in der Region Alto Río Guapi – das Gebiet besteht aus zehn Dörfern, wo insgesamt 638 Familien leben. Hier starteten die kolumbianischen Streitkräfte am 21. Mai eine Militäroffensive gegen die FARC-Gruppen. „All die Flugzeuge, Helikopter, Bomben und Explosionen – lauter Dinge, die die Menschen hier bisher noch nicht kannten. Es herrschte sehr große Nervosität und Anspannung, es gab Leute, die damit nicht umgehen konnten. Die Kinder weinten viel, sie wollten nicht mehr essen. Meine Tochter war eine von denen, die besonders schwer betroffen war… Ich sagte ihnen, dass ihnen nichts geschehen würde, solange sie bei uns – bei Mama und Papa – sind.“

Am Morgen des dritten Kampftages beschlossen alle rund 160 Einwohner des Dorfes, wo Rafael lebt, ihr Zuhause zu verlassen. „Niemand blieb. Das einzige, was man mitnehmen konnte, waren Kleider. Bereits in der Vergangenheit hatten wir wegen der Kämpfe Gründe gehabt, zu gehen – doch wir blieben und hielten es aus. Dieses Mal war es einfach zu heftig, also flohen wir.“

110 Familien fliehen aus dem Kampfgebiet

An diesem Tag entschlossen sich auch die Menschen aus benachbarten Dörfern zur Flucht: 110 Familien mit insgesamt 468 Personen. Sie alle erreichten mit Kanus das städtische Gebiet der Gemeinde Guapi. Dort waren sie auf der Suche nach humanitärer Hilfe und einer Unterkunft bei Verwandten. „Die Hilfsgelder reichen nicht aus; wir haben nicht einmal Töpfe, einen Herd oder Kübel, um Wasser zu holen. Das Essen, das wir bekommen, reicht für große Familien nicht aus“, erzählt Rafael, und seine Augen werden feucht.

„Jetzt geht es der Gemeinschaft besser. Wir haben uns verbündet und arbeiten alle zusammen, um sicherzustellen, dass die Hilfsgüter gerecht aufgeteilt werden. Doch allen, die erst jetzt kommen – von anderen Dörfern, die sie aus verschiedenen Gründen nicht früher verlassen konnten – geht es nicht gut. Ich sagte ihnen, sie sollten zu Ärzte ohne Grenzen gehen, um emotionale Unterstützung zu bekommen. Das ist wichtig, damit sie nicht in ihren schlechten Gedanken eingesperrt sind und auch wieder positive Dinge sehen können.“

„Noch besorgter sind wir um alle, die noch immer dort sind, die nicht weggehen können. Sie sind verängstigt und hungrig, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können.“ In Anbetracht der Situation im Konfliktgebiet mussten alle produktiven Tätigkeiten wie Jagen, Fischen, Landwirtschaft und Bergbau eingestellt werden.

Psychologische Hilfe für Betroffene

Seit das psychologische Team von Ärzte ohne Grenzen im städtischen Gebiet von Guapi angekommen ist, arbeitet es mit staatlichen Akteuren und anderen Nicht-Regierungsorganisationen zusammen, um den psychosozialen Bedarf der Menschen zu decken. Unser Team hat 24 Menschen ausgebildet, damit diese psychische Warnsignale erkennen und psychologische Erste Hilfe leisten können. Sie bieten nun psychosoziale und primäre medizinische Hilfe für Betroffene an. Ärzte ohne Grenzen führte auch Gruppensitzungen für 140 Einwohner betroffener Gemeinden durch, von denen die meisten an mehreren Einheiten teilnahmen. Ziel der Sitzungen ist, den Menschen zu vermitteln, dass ihre Reaktionen normal sind, und Betroffene zu identifizieren, die individuelle oder familiäre klinische Hilfe benötigen. Auch werden die Bewältigungsstrategien von Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften gestärkt, die ihnen dabei helfen, mit der Situation umzugehen.

Unser Team versorgte bisher 23 Kinder und 31 Erwachsene im Rahmen klinischer Beratungsgespräche, die für solche Fälle typische Reaktionen entwickelt hatten: 55% litten unter posttraumatischen Symptomen, 43% unter Angstzuständen und 2% unter Symptomen, die im Zusammenhang mit Depressionen stehen.

Anna Surinyach
Unsere Psychologin Juliana Puerta betreut geflohene Familien psychologisch.

Wichtigkeit psychosozialer Hilfe muss anerkannt werden

Doch auch wenn diese Reaktionen nach gewaltsamen Erlebnissen normal sind, ist es essentiell, dass die Wichtigkeit rascher psychologischer Hilfe für diese Menschen anerkannt wird. Nur so kann emotionaler Stress gelindert und die Entwicklung von Problemen wie einer posttraumatischen Belastungsstörung vermieden werden, unter denen Betroffene sehr schwer leiden und die oft chronisch wird.

Das Hilfsprogramm von Ärzte ohne Grenzen in Kolumbien setzten sich daher aktiv dafür ein, dass psychosoziale Hilfe von den Gesundheitsbehörden als Priorität behandelt wird – vor allem in Gebieten, die durch den gewaltsamen Konflikt betroffen sind.

Ärzte ohne Grenzen ist seit 1985 in Kolumbien in den Gebieten Cauca und Nariño tätig. In Cauca bieten Teams der Organisation individuelle und gruppentherapeutische Sitzungen in Krankenhäusern und Gemeinden an. Unsere Fachkräfte bilden auch Führungskräfte, Gesundheitsaufklärungsteams, Hebammen und Lehrpersonen aus, damit diese im Fall gewaltsamer Vorfälle psychologische Erste Hilfe leisten können. Im Jahr 2014 leisteten die Teams von Ärzte ohne Grenzen insgesamt 1.247 psychologische Beratungsgespräche in der Gebirgsregion Cauca.