Syrien: Zwischen Ost und West

12.08.2013
PatientInnen von Ärzte ohne Grenzen berichten - Teil 3 (mit Video)
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Surinyach Anna/MSF
Istanbul, Türkei, 02.05.2013: Hassan Nasser sprang, als Sicherheitskräfte ihn in ‪Syrien‬ verhaften wollten, aus dem 3. Stock und hat seither große Rückenprobleme. Er ist mit seiner Familie nach Istanbul geflohen.

Eine wachsende Zahl von SyrerInnen in Istanbul ist hin- und hergerissen zwischen der Rückkehr in ihr Heimatland und einer Zukunft in Europa.

Auf der linken Seite sitzt Yaman. Der stille Zwölfjährige ist ein leidenschaftlicher Fan des Fußballklubs Real Madrid. Er ist aus Syrien geflüchtet und lebt nun in einem Keller in Istanbul. Er vermisst seinen Heimatort Al-Kisswah am Stadtrand von Damaskus und möchte nach Kriegsende in sein Land zurückkehren. Später möchte er Mathematiker werden.

Rechts sitzt sein Bruder Yanal, der ein Jahr jünger ist. Wie seine Helden, die Stürmer des FC Barcelona, steht er gern im Mittelpunkt des Geschehens. Er träumt davon, Syrien und der Türkei den Rücken zu kehren und in einer europäischen Hauptstadt zu leben. Später möchte Yanal Journalist werden.

Spannungen in den Familien

Es kann also innerhalb der Familien zu Spannungen kommen: Sehnsucht nach der Heimat einerseits und der Wunsch, zu ganz neuen Horizonten aufzubrechen andererseits. In der Mitte sitzt Hassan Nasser, der Vater. "Wenn wir gehen, dann auf jeden Fall auf offiziellem Weg", sagt Hassan entschieden. "Viele Syrer reisen inoffiziell, mithilfe von Schleppern nach Europa, aber das ist sehr gefährlich. Meine Familie wird das auf keinen Fall tun. Wenn wir nach Europa gehen, dann ganz sicher mit gültigen Dokumenten."

Hassan ändert seine Position auf dem Sofa, um seine Rückenschmerzen zu lindern. Im März 2011 nahm er an den ersten Protesten in Syrien teil. Als kurz darauf die Sicherheitskräfte bei ihm zu Hause auftauchten, um ihn zu verhaften, sprang er aus einem Fenster im dritten Stock und verletzte sich dabei am Rücken. Ein Jahr später gelang es ihm, mit seiner Familie in die Türkei zu fliehen. Ob er eine Operation braucht, ist noch unklar. "Falls man mir die Möglichkeit gäbe, mich in Europa behandeln zu lassen, dann würde ich gehen", sagt Hassan. "Das wäre wunderbar." Aber Hassan lässt keinen Zweifel an seinem innigen Wunsch, in sein Heimatland zurückzukehren - sobald das Blutvergießen aufhört.

Istanbul als Zufluchtsort

Tausende Migranten und Flüchtlinge aus aller Welt haben in Istanbul Zuflucht gefunden. Viele sind aus kriegsgeplagten Ländern wie Afghanistan, Irak und der Demokratischen Republik Kongo geflohen - Syrien ist als neu hinzugekommen. Die meisten Menschen, denen die Flucht vor den Bombardierungen in Syrien gelungen ist, leben in Camps entlang der türkisch-syrischen Grenze, aber immer mehr Flüchtlinge schaffen es bis nach Istanbul.

"Die meisten Menschen, die wir in unserem psychologischen Programm betreuen, sind vor dem Krieg geflohen. Sie haben Angst, geradezu Paranoia, den internationalen Organisationen oder der türkischen Bevölkerung Informationen preiszugeben. Deshalb sind sie sehr verschlossen und grenzen sich ab. Sie fürchten, man könnte sie identifizieren oder aus Istanbul deportieren", erzählt Ghassan Abou Chaar, Koordinator von Ärzte ohne Grenzen in Istanbul.

"Wir haben alles verloren"

Wegen der Rückenschmerzen kann Hassan nicht arbeiten. Die Ärzte sind sich seit Monaten uneinig, ob die Operation eines Wirbels sinnvoll wäre. In der Zwischenzeit wird das Geld knapp. Vor dem Krieg besaß Hassan in seinem Heimatort ein Kleidergeschäft und hatte keine finanziellen Sorgen. Dann begann der Konflikt. "Wir haben alles verloren", sagt Hassan. "Plötzlich hatte ich keine Kunden mehr, keinen einzigen. In meiner Gegend konnten selbst Leute mit einem unterdurchschnittlichen Einkommen am Anfang der Revolution noch gut überleben. Aber dann konnten viele von ihnen ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten und waren gezwungen, sich an die Hilfsorganisationen zu wenden".

Hassans Geschichte ist typisch für Familien, die früher ein angenehmes Leben führten und jetzt schwere Zeiten durchmachen. Auch Kemal Zori, ein syrischer Kurde, musste harte Schicksalsschläge hinnehmen. Er besaß ein Restaurant in Damaskus, und der Familie ging es finanziell gut, obwohl sie sich als Kurden diskriminiert fühlten. "Wir fühlten uns wie der Bodensatz der Gesellschaft", sagt er. Kemal wurde nicht direkt Opfer der Gewalt, aber seine zwei Söhne wurden zur Armee Bashar Al Assads einberufen. An diesem Punkt beschloss die Familie zu fliehen. "Gegen wen hätten sie da gekämpft?", fragt er ironisch.

Kemal denkt sehnsüchtig an das Leben vor dem Krieg zurück. Einer seiner Brüder spielt auf der Laute und versucht so, die Familienmitglieder etwas aufzuheitern. In einer geräumigen Wohnung in Kanarya, einem Außenquartier von Istanbul, warten sie darauf, dass es Zeit für das Abendessen wird. Die Familie befindet sich zwar nicht in einer verzweifelten Lage, aber leidet unter der völligen Ungewissheit, die so vielen Flüchtlingen gemeinsam ist. "An Europa denke ich nicht", sagt Kemal. "Wir werden hierbleiben. Wir haben keine andere Wahl".