Warum Ärzte ohne Grenzen diverser werden muss

Ärzte ohne Grenzen wurde vor 50 Jahren von 12 weißen Ärzten gegründet. Laura Leyser, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Österreich, erklärt, warum wir dieses Bild dringend ändern müssen.
Kommentar von Laura Leyser
21.12.2021

Laura Leyser, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Österreich, blickt zurück auf die letzten 50 Jahre der Organisation und sagt, was sich in den nächsten 50 Jahren, am besten schneller, noch ändern muss: 

Es gibt vieles, worauf wir als Ärzte ohne Grenzen anlässlich unseres 50. Gründungstages stolz sein können. Allein im letzten Jahr waren wir in rund 80 Ländern im Einsatz. Die Corona-Pandemie hat die Notwendigkeit medizinischer Hilfe sichtbar gemacht: Wenn sogar hervorragende Gesundheitssysteme kurz vor dem Kollaps stehen, wird für viele Menschen noch nachvollziehbarer, wie groß der Hilfsbedarf dort ist, wo die medizinische Versorgung auch in „guten Zeiten“ schlecht ist.  

Viele Herausforderungen liegen in den nächsten 50 Jahren vor uns. 

Es liegt allerdings in der Natur unserer Organisation, dass wir uns nicht nur an Höhepunkte erinnern, uns nicht auf Lorbeeren ausruhen, sondern auch kritische Selbstreflexion betreiben. Viele Herausforderungen liegen in den nächsten 50 Jahren vor uns.

Manche davon extern, wie die Auswirkungen des Klimawandels, von denen bereits jetzt die Bevölkerung in vielen unserer Einsatzländer betroffen ist. Andere davon intern, wie die fortschreitende Digitalisierung, die uns etwa erlauben wird, Bereiche wie Telemedizin und digitale Gesundheitsaufklärung auszubauen. Und noch ein weiteres Thema wird uns viel stärker beschäftigen müssen als bisher: Diversität. 

12 weiße Ärzte und Journalisten

Ärzte ohne Grenzen wurde 1971 von 12 weißen Ärzten und Journalisten in Paris gegründet, von einer Gruppe engagierter Männer, deren Vision es war, medizinische Nothilfe gemäß der humanitären Prinzipien Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit zu leisten und Sprachrohr zu sein für unsere Patient:innen. 

A Charter for the new MSF
D.R.
22. Dezember 1971

Mittlerweile sind wir zu einer weltweiten Bewegung mit rund 63.000 Mitarbeiter:innen gewachsen, über 80 Prozent davon nicht aus Ländern des globalen Nordens. Es hat sich viel verändert – und damit gewachsen ist die Dringlichkeit, uns neu aufzustellen und zu organisieren.  
 
Immer noch sind die fünf Einsatzzentralen von Ärzte ohne Grenzen in Europa angesiedelt. Das ist historisch so gewachsen. Eine sechste, die sich auf West- und Zentralafrika fokussiert, ist kürzlich mit Teams in Dakar und Abidjan eingerichtet worden. Auf internationaler Ebene wird stark daran gearbeitet, die gewachsenen Organisationsstrukturen zu hinterfragen und ein „neues Ärzte ohne Grenzen“ zu denken. Anti-Diskriminierungs- und Rassismus-Debatten werden geführt und Regelwerke aufgestellt, um entsprechend zu handeln.  
 

Wir wissen, dass noch ein weiter Weg vor uns liegt.

Dafür brauchen wir auch starke Stimmen innerhalb der Organisation, wie jene von Bern-Thomas Nyang'wa. Er war Anfang der 2000er-Jahre der erste malawische Arzt, der für Ärzte ohne Grenzen arbeitete. Er begann als Doktor und übernahm immer wieder neue Rollen innerhalb der Organisation, bis er medizinischer Koordinator wurde. 

Scientific Days London 2019 - Medical Research Day
Euan Allardyce
Bern-Thomas Nyang'wa bei den "Scientific Days" in London 2019.

Die Karriereleiter zu erklimmen war für ihn nicht leicht und er berichtet von Hürden, die eine Ärztin aus einem europäischen Land aufgrund der teils unterschiedlichen Regeln für „internationale“ und „lokal angeheuerte“ Mitarbeiter:innen nicht nehmen muss. 

Viele Menschen sehen sich bei Ärzte ohne Grenzen immer noch mit strukturellen Hindernissen konfrontiert, die Chancengleichheit verhindern. Umso wichtiger ist die derzeitige Dynamik innerhalb der Organisation.  

Auf die Zukunft fokussieren

In Zukunft werden wir unsere Strukturen und die Verantwortungen weiter auch in den globalen Süden verlagern. Damit einher geht allerdings eine andere Herausforderung: Der Großteil des Spendeneinkommens erfolgt immer noch im globalen Norden. Damit verbunden ist auch eine gewisse Erwartungshaltung. 

Nach wie vor sind oft nur die „weißen Helfer:innen“ zu sehen und allzu häufig beherrschen Stereotype den Versuch, finanzielle Mittel zu sammeln. 

Das gilt nicht nur für Ärzte ohne Grenzen: Die ganze NGO-Szene muss sich die Frage gefallen lassen, ob die Darstellung von Hilfsbedürftigkeit noch zeitgemäß ist. Wir sind der Meinung, dass Hilfe stärker „auf Augenhöhe“ stattfinden und auch kommuniziert werden muss – in diesem Punkt müssen auch wir selbst besser werden. Und diese Hilfe auf Augenhöhe muss alle Aspekte von organisationsinternen Strukturen, Personal bis hin zu PR-Maßnahmen umfassen. 

Unser Ziel: globaler und diverser werden!

Wir bewegen uns in einem Spannungsverhältnis und arbeiten daran, alle Bedürfnisse zu erfüllen: Auf der einen Seite die „Stimme aus Österreich“ zu zeigen, die es einem breiten Publikum oft erleichtert, sich für ohnedies schwierige Themen, die viel zu weit weg sind, zu interessieren: eine steirische Hebamme, die aus dem Südsudan berichtet, oder ein Wiener Logistiker, der für die Hilfslieferungen im Jemen zuständig ist, machen die Hilfe oft „greifbarer“. Gleichzeitig sind wir bestrebt, die große Vielfalt und Expertise unseres Personals weltweit sichtbar zu machen und unsere Patient:innen auch selbst zu Wort kommen zu lassen. 
 
Wir müssen Diversität und Inklusion mit Leben füllen, das Potenzial aller Mitarbeitenden schätzen und fördern und weiter dafür Sorge tragen, dass die besten Kolleg:innen unsere Entscheidungsträger:innen sind – unabhängig aus welchem Land sie kommen oder welche ethnische Zugehörigkeit sie haben. Wir werden weiter von einer „westlich“ geprägten zu einer wahrlich globalen, diversen Organisation wachsen.