Ärzte ohne Grenzen verstärkt Nothilfe im vom Krieg erschütterten Libyen

10.06.2011
Bevölkerung leidet unter den anhaltenden Kämpfen
Tunesien 2011
Mattia Insolera
Tunesien, 16.05.2011: Psychologoisches Hilfsprogramm von Ärzte ohne Grenzen im Shousha-Flüchtlingslager an der tunesisch/libyschen Grenze.

Während der Osten Libyens von Aufständischen und der Westen von Pro-Gaddafi Truppen kontrolliert wird, gehen die Kämpfe im Land weiter. Besonders in der Region um Misrata, im Westen, verschlechtert sich Situation der von den anhaltenden Kämpfen betroffenen Bevölkerung. Ebenfalls problematisch ist die Lage der Wanderarbeiter. Viele fliehen unter zum Teil dramatischen Umständen mit Booten nach Europa oder sind bereits in Flüchtlingslager nach Tunesien geflüchtet, wo sie weiterer Gewalt und Unsicherheit ausgesetzt sind.

Ärzte ohne Grenzen ist seit dem 25. Februar in Libyen aktiv. Aufgrund der Verschärfung der Lage weitet Ärzte ohne Grenzen die Arbeit in den Städten Misrata, Bengasi, Sintan sowie in den Flüchtlingslagern an der tunesischen Grenze und auf den italienischen Inseln Lampedusa und Sizilien aus. Das Angebot von Ärzte ohne Grenzen, auch medizinische Unterstützung in Pro-Gaddafi-Gebieten zu leisten, wurde bisher von der Regierung abgelehnt.

Bedingungen in Misrata weiterhin schwierig

Während die Kämpfe um die Stadt Misrata weitergehen,  leistet Ärzte ohne Grenzen im Abbad-Krankenhaus medizinische und insbesondere chirurgische Nothilfe für Kriegsverletzte – dazu gehören Hauttransplantationen sowie andere plastische Eingriffe. Die Organisation hat im Kasr Ahmed-Krankenhaus zwei OP-Säle aufgebaut, um andere notwendige Operationen durchführen zu können. Im Ras Tubah-Krankenhaus leisten die Teams von Ärzte ohne Grenzen zusammen mit libyschem Personal bei rund fünfzehn Geburten täglich Hilfe.

Ärzte ohne Grenzen hat ein Team von zwanzig Psychologen ausgebildet, die das medizinischen Personal und die Patienten in vier Krankenhäusern der Stadt mit psychologischer Hilfe unterstützen. “Obwohl die Frontlinie sich nun außerhalb des Stadtzentrums befindet, leben die Menschen unter sehr schwierigen Bedingungen. Sie leiden unter den traumatischen Erfahrungen, unmittelbar schwere Kämpfe miterlebt zu haben, zudem leben sie im Belagerungszustand. Es ist unmenschlich, dass die Menschen dazu gezwungen sind, solche Umständen zu ertragen”, sagt Renzo Fricke, Notfallkoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Misrata.

Trainings in Kriegs- und Unfall-Chirurgie für libysches Personal

Chirurgen von Ärzte ohne Grenzen haben für libysches Personal, dem es an Erfahrungen in Kriegs- und Unfall-Chirurgie mangelt, Trainings durchgeführt. Darüber hinaus wurden Medizinstudenten in Grundlehrgängen auf eine freiwillige Tätigkeit als Krankenpflegepersonal vorbereitet, da viele der meist ausländischen Krankenschwestern/pfleger in Misrata das Land verlassen haben.

Außerhalb Misratas unterstützt Ärzte ohne Grenzen medizinische Posten nahe der Frontlinie, die erste Hilfe für Verwundeten leisten, bevor diese in Krankenhäuser nach Misrata überwiesen werden. Diese Hilfe beinhaltet neben Schulungen des medizinischen Personals in der Stabilisierung Verwundeter auch die Ausstattung mit medizinischen Material und Kommunikations-Ausrüstung. 

Sintan weiter unter Beschuss – Ärzte ohne Grenzen musste evakuieren

In der westlibyschen Stadt Sintan unterstützt ein Team von Ärzte ohne Grenzen das Krankenhaus bei der Aufnahme der Verletzen – nach den Kämpfen in der Bergregion Nafusa wurden im letzten Monat mehr als 120 Patienten aufgenommen – Ärzte ohne Grenzen hat außerdem Trainings durchgeführt sowie dem Krankenhaus medizinische Geräte und Medikamente zur Verfügung gestellt.

Am 27. Mai war Ärzte ohne Grenzen nach mehrmaligem Raketen-Beschuss gezwungen gewesen, das Team zu evakuieren. Am 4. Juni kehrten zwei Mitarbeiter nach Sintan zurück, um die Situation zu evaluieren und medizinische Aktivitäten abzuschließen. Die Sicherheitslage ist nach wie vor sehr unsicher, da die Stadt und Umgebung immer wieder beschossen werden. Patienten des Krankenhauses werden momentan in medizinische Einrichtungen in Tunesien oder in die nahegelegene libysche Stadt Jadu überwiesen.

Psychologische Hilfe, Geburtshilfe und Pädiatrie in Bengasi

Im früheren Kampfgebiet Bengasi konzentriert sich Ärzte ohne Grenzen auf die psychologische Betreuung für Frauen, Kinder und medizinisches Personal, das während der Kämpfe im Einsatz war. Ein Psychologe der Organisation unterstützt libysche Kollegen mit einem Training, dessen Ziel es ist, bei Patienten Traumasymptome – insbesondere Depressionen - zu erkennen. Des Weiteren assistiert Ärzte ohne Grenzen der zentralen Apotheke bei Medikamentenbestellungen, auch wenn durch die steigende Präsenz internationaler Organisationen mittlerweile weniger Unterstützung nötig ist.

Außerhalb Bengasis leistet Ärzte ohne Grenzen gynäkologische und pränatale Hilfe in drei Einrichtungen zwischen Bengasi und der Stadt Adschdabija.

Hilfe für Flüchtlinge in Tunesien und Italien

Tausende libysche Familien fliehen aus der Region Nafusa Richtung tunesischer Grenze. Seit Anfang April bis Anfang Juni sind mehr als 60.000 Libyer vor dem Konflikt geflohen und suchen Zuflucht entlang der Grenze zu Tunesien.

Ärzte ohne Grenzen hilft den lokalen Gesundheits-Einrichtungen, die wachsenden medizinischen Bedürfnisse aufzufangen. In den Flüchtlingslagern Remada und Dehibat hat Ärzte ohne Grenzen mobile Kliniken eingerichtet und bietet den Flüchtlingen medizinische und psychologische Unterstützung. Die Situation in Dehibat ist wegen der die tunesische Grenze überschreitenden Kämpfe angespannt.

In den Übergangscamps von Ras Adjir, nahe der nördlichen Grenze zwischen Tunesien und Libyen, können nahezu 4.000 Menschen, die meisten von ihnen aus Sub-Sahara Afrika,  aufgrund der Situation in ihren Herkunftsländern nicht in ihre Heimat zurück und stehen vor einer ungewissen Zukunft. Seit Anfang März betreibt Ärzte ohne Grenzen ein psychosoziales Hilfsprogramm in den Lagern, da viele Menschen auf ihrer Flucht aus Libyen Gewalt erlebt und traumatische Erfahrungen gemacht haben.

In Shousha, dem größten Camp, hat diese Situation zu starken Spannungen geführt. Ende Mai starben während eines Feuers vier Flüchtlinge. Dadurch ausgelöst folgten gewalttätige Demonstrationen gegen die unmenschlichen Lebensbedingungen im Lager. Mindestens zwei Menschen starben, viele weitere wurden verletzt und zwei Drittel des Camps niedergebrannt. Am Tag nach den Vorfällen verteilte Ärzte ohne Grenzen Nahrung, Wasser und Hilfsgüter an rund 4.000 Menschen und leistete medizinische und psychologische Hilfe. Auch wenn sich die Situation im Lager wieder stabilisiert hat, herrscht unter den Flüchtlingen Angst und Misstrauen. Viele haben bereits mehrmals versucht, die Grenze zu Libyen zu passieren und riskieren auf der Suche nach einer besseren Zukunft erneut ihr Leben. Seit Ende Mai bietet Ärzte ohne Grenzen für die Menschen im Shousha Flüchtlingscamp eine medizinische Grundversorgung, da viele gesundheitliche Beschwerden nicht nur auf die zurückliegenden Ausschreitungen zurückzuführen sind, sondern auch auf die schlechten Lebensbedingungen im überfüllten Camp.

Auf der Insel Lampedusa betreut Ärzte ohne Grenzen die Aufnahme von Patienten im Hafen und die medizinische Nachsorge in den Auffanglagern der Insel. Von Februar bis Mai hat Ärzte ohne Grenzen auf Lampedusa fast 12.000 Menschen, die vor dem Konflikt in Libyen geflüchtet sind, geholfen. Die Organisation betreibt zudem ein psychosoziales Hilfsprogramm in einem Auffanglager in Mineo (Sizilien), wo seit März mehr als 3.500 Migranten verschiedener Nationalität aufgenommen wurden. Darüber hinaus hat Ärzte ohne Grenzen es übernommen, die Lebensbedingungen der Migranten und den Zugang zu Hilfe in Internierungslagern auf dem italienischen Hauptland zu evaluieren.