Philippinen: „Die Überlebenden haben alles verloren – zurück bleiben schwere soziale und psychische Probleme.“

10.02.2014
Frederique Drogoul, Psychiaterin von Ärzte ohne Grenzen, über neues psychologisches Hilfsprogramm
Julie Remy
Julie Remy
Guiuan, Philippinen, 10.12.2013: Kinder in Guiuan zeichnen während einer psychosozialen Beratung ihre Erlebnisse während Taifun Haiyan. Durch ihr Verhalten und ihre Bilder versuchen die PsychologInnen diejenigen zu identifizieren, die intensivere persönliche Betreuung benötigen.

Unter den Opfern des Taifun Haiyan waren viele Kinder – eine der Schulen im Gebiet um Tacloban hat 59 seiner SchülerInnen verloren. Frederique Drogoul, Psychiaterin von Ärzte ohne Grenzen, erläutert ein neues psychologisches Programm dass sich an Schulkinder, Mütter und andere Menschen richtet, die drei Monate nach der Naturkatastrophe mit schweren psychischen Problemen kämpfen, und die dadurch spezialisierte Hilfe erhalten.

Image removed. „In der Gegend rund um Tacloban war der Taifun besonders stark. Die Welle baute sich wie ein Tsunami auf und überflutete die Gebäude aus Stein, in denen die Menschen Zuflucht suchten – viele von ihnen ertranken. Die Menschen haben Familienmitglieder verloren, vor allem Kinder, die sich nicht festhalten konnten, als die Welle auftraf. Sie haben auch ihre Häuser verloren, und viele auch ihre Lebensgrundlage – Fischer ihre Boote, Bauern ihre Kokosbäume. Alle Gemeinden an den Küsten wurden zerstört, die Überlebenden haben alles verloren, deshalb kämpfen viele mit schweren sozialen und psychischen Problemen.

Psychischer Stress führt zu physischen Symptomen

Naturkatastrophen von dieser Stärke betreffen alle und führen zu großem psychischen Stress, während die Menschen versuchen, mit dem Verlust und ihrer Trauer zurechtzukommen. Während der ersten paar Tage standen sie noch unter Schock. In den darauffolgenden Wochen suchten sie die Gesundheitszentren auf mit unerklärlichen physischen Symptomen – Schwindel, Kopfweh und Schlafstörungen, eine Folge des psychischen Stresses. BeraterInnen versorgten sie mit „psychologischer erster Hilfe“, indem sie ihnen zuhörten und ihnen erklärten, dass ihre Reaktionen vollkommen normal sind und mit der Zeit zurückgehen würden.

Nach ein oder zwei Monaten beginnen die Menschen sich zu erholen – sie sind zwar noch immer traurig, aber nicht mehr krank. Doch 10 oder 15 Prozent der Menschen erholen sich nicht. Sie leiden weiterhin sehr unter posttraumatischem Stresssyndrom, ernsthaften Depressionen und manchmal auch Psychosen – das sind  die Menschen, die wir erreichen wollen.

Wir müssen auch sicherstellen, dass bestehende psychiatrische PatientInnen, die besonders verletzlich sind, weiterhin ihre Behandlung erhalten – denn viele von ihnen können sich ihre Medikamente nicht mehr leisten oder überhaupt eine Klinik aufsuchen.

Psychologische Hilfe an Schulen

Hilfe an Schulen anzubieten ist ein wichtiger Bestandteil unseres Programms. Als die Schule in Palo nach dem Taifun wieder geöffnet wurde, fehlten 59 ihrer 300 SchülerInnen. Unsere Teams besuchen die Schulen wöchentlich und unterstützen die LehrerInnen sowohl bei der Aufarbeitung ihres eigenen Leids als auch dabei, ihren SchülerInnen beizustehen. Die Lehrpersonen überweisen die am schwersten betroffenen Kinder an unser Team, wo wir Gruppen- oder Einzelberatungen an der Schule anbieten.

Seit dem Taifun haben viele Kinder große Angst davor, von ihren Eltern getrennt zu sein – daher ist es schwierig für sie, zur Schule zu gehen. Wenn sie dann dort sind, haben sie Konzentrationsprobleme, sind äußerst aufgebracht oder auch sehr still und in sich zurückgezogen. Die LehrerInnen helfen uns dabei, diejenigen Kinder zu identifizieren – und auch deren ganze Familien – die spezifische psychologische Hilfe benötigen. Denn wenn die Kinder nicht mit ihrer Lage zurechtkommen, gilt das oft für die gesamte Familie.

Wir haben erst vor zehn Tagen begonnen, aber unsere psychologischen Teams an den Schulen sind bereits sehr beschäftigt. Auch in der Entbindungsstation des Krankenhauses gibt es sehr viel Arbeit, da viele junge Mütter nicht wissen, wie sie mit der Situation zurechtkommen sollen. Sich um ein Neugeborenes zu kümmern kann sehr belastend sein, besonders wenn dein Zuhause zerstört wurde und du andere Kinder im Taifun verloren hast.

Folgen der Katastrophe halten für eine lange Zeit an

Die meisten Menschen hier sind katholisch und leben in kleinen Gemeinden – jeder kennt jeden. Niemand blieb vom Taifun verschont, also sind alle in derselben Situation, und es besteht eine enorme Solidarität untereinander. Aber trotzdem sind sie sehr offen für Unterstützung von außen. Je ernsthafter die Probleme der Menschen sind, desto weniger abweisend sind sie und ihre Familien, Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Die Vorsteher der Gemeinden und die lokalen Gesundheitshelfer unterstützen uns dabei, die am schwersten betroffenen Menschen ausfindig zu machen – isolierte alte Menschen, bereits davor erkrankte Menschen sowie Familien, die viele Kinder verloren haben. Ein Mann brachte seine Frau zu uns – nachdem sie all die Toten auf den Straßen liegen gesehen hatte, konnte sie ihr Haus nicht mehr verlassen um etwas zu tun. Ein anderer junger Mann wurde mit einer starken wahnhaften Störung zu uns gebracht. Manche Menschen benötigen medizinische Behandlung, aber die meisten brauchen nur psychologische Hilfe und Anteilnahme.

Ich denke, das ist ein gutes und wichtiges Programm. Ohne Ärzte ohne Grenzen würde diese spezielle Hilfe hier nicht existieren. Es gibt soziale Probleme in allen Teilen der Welt, aber nach einer Naturkatastrophe wie dieser ist es gut, dass wir für sechs oder sieben Monate bei den Betroffenen sein können. Die Folgen dieser Art von Katastrophe halten für eine lange Zeit an, denn der Lebensalltag der Menschen wurde zerstört.“