“Das Lächeln der PatientInnen“

06.06.2014
Psychologin Charlotte Yence über ihre Arbeit mit syrischen Flüchtlingen im Irak
Psychologin Charlotte Yence in einem Zeltlager für syrische Flüchtlinge im Irak.
Irak, 16.04.2014: Psychologin Charlotte Yence in einem Zeltlager für syrische Flüchtlinge im Irak.

Die Französin Charlotte Yence ist klinische Psychologin und war für fünf Monate im irakischen Kurdistan tätig. Ärzte ohne Grenzen arbeitet dort seit 2013 mit Flüchtlingen aus Syrien. Sie hat vor Ort psychologische Hilfsprogramme in den Flüchtlingslagern Kawargosk, Qushtapa and Darashakran aufgebaut. In ihrem Rückblick schildert sie die tagtäglichen Herausforderungen und wie die Menschen trotz ihrer qualvollen Schicksale Hoffnung entwickeln.

“Der Winter ist kalt im irakischen Kurdistan. Doch die menschliche Wärme macht die Kälte und den eisigen Wind, der durch die Lager weht, wieder wett. Jeden Morgen sammle ich all meinen Mut, um mit der Arbeit zu beginnen. Jeder einzelne Tag ist eine Herausforderung, und der Frost lässt mich kaum mehr los. Ich wage es nicht, mir vorzustellen, was die Menschen in all den Zelten hier durchgemacht haben, zusätzlich zu ihrem doppelten Exil: Zuerst sind sie aus Damaskus geflohen, dann aus dem kriegsgebeutelten Aleppo, um im syrischen Kurdistan Zuflucht zu suchen, woher sie ursprünglich stammen. Als dann auch hier die Bombardements begannen, flohen sie weiter in den Irak.

Sie haben alles verloren – und das zwei Mal: Ihre Familien sind zerrissen, sie alle haben geliebte Menschen verloren, und jetzt leben sie unter unzumutbaren Bedingungen und mit einer unsicheren Zukunft. Es ist hart und qualvoll; sie fühlen sich von ihren kurdischen Verwandten nicht willkommen geheißen, da sie nicht mehr dieselbe Sprache sprechen und weder eine Arbeit noch ein Einkommen haben. Ihre Verzweiflung ist greifbar, und ihr Verlangen nach einem besseren Leben ist mehr als gerechtfertigt; aber momentan müssen sie sich auf ihr Überleben konzentrieren und mit den neuen Lebensumständen zurechtkommen. Das Zelten in Regen, Schnee und Schlamm ist nicht einfach, und auch wenn es schwer ist, all das in Worte zu fassen, drücken doch ihre Körper ihr tiefes Leiden aus.

Die Sprache der Gefühle

Das Lächeln der PatientInnen, wenn sie mich sehen, wärmt mein Herz. Ihre Ruhe und ihre strahlenden Gesichter am Ende jeder der intensiven und befreienden Sitzungen sind die beste Bestätigung, weiter zu machen. Die Männer schütteln schüchtern meine Hand, berühren damit ihr Herz oder ihre Stirn, oder beides rasch nacheinander. Jeden Tag werde ich bis zur siebten Generation gesegnet mit aufgeregten ‚saatchava saatroch‘, was so viel bedeutet wie ‚unter meinen wachsamen Augen‘ . Die Frauen drücken mich fest, geben mir einen Kuss auf die linke Wange und drei rasche Küsse auf die rechte, legen einen Arm um meinen Nacken und pressen den anderen um meinen Kopf. Ihre Härte ist zärtlich, ihre Zärtlichkeit ist hart. Ich nehme sie in den Arm, wenn sie weinen, und spreche in meinem französisch-kurdisch-arabischen Kauderwelsch mit ihnen – ‚halas, ça va aller, bash?‘ – und sie verstehen mich, denn die Sprache der Gefühle ist stärker als die der Worte. Wir lachen auch viel; wir sind Komplizen und haben genug Vertrauen zueinander, um schwierige Themen mit einer gewissen Leichtigkeit aufzugreifen.

Ausbruch aus dem Kreislauf von Enttäuschungen

‚Laufende Mama‘, diesen Spitznamen habe ich ihr gegeben, weil sie jede Woche im Laufschritt zu mir kommt – so groß ist ihre Eile, mich zu sehen – und weil sie so laut lacht, wenn ich diesen Namen verwende. Sie ist 47 Jahre alt und sieht aus wie 60; außer, wenn sie lacht, dann sieht sie noch immer aus wie ein Schulmädchen. Sie spricht begierig, mit Dringlichkeit und vielen Details: Über ihre elf Kinder – eines davon ist 27 Jahre alt und schwer behindert und wird nie selbständig sein können –, oder ihre zwei Enkel, auf die sie aufpasst, oder ihren Analphabetismus, der sie daran hindert, zu verstehen, welche Hilfsorganisation Essen verteilt. Ihr Ehemann ist in Syrien geblieben, und sie verflucht ihn, weil er überfordert und verängstigt ist, weit weg von ihrem alltäglichen Leben. Gleichzeitig will sie ihm nicht alles erzählen – es wäre mehr eine Belastung als eine Hilfe.

Nach unserer Sitzung kehrt sie wieder zu ihrer Familie zurück – sie läuft zwar nicht, aber sie geht etwas beschwingter, erleichtert von den überwältigenden Schmerzen, die sie so früh altern lassen. Wir haben eine starke Beziehung entwickelt, und es bricht mir beinahe das Herz, als ich ihr am Ende meines Einsatzes sagen muss, dass ich gehe. Für sie ist es ein weiterer Verlust, der all jene wieder auffrischt, die sie bereits erleiden musste. Große, stille Tränen laufen ihre faltigen Wangen hinab, als sie sich an den Übersetzer wendet und fragt: ‚Was wird aus mir werden? Der einzige Segen, den ich seit meiner Ankunft hier im Irak erhalten habe, war, sie zu treffen!‘

Wir versichern ihr, dass sie meine Nachfolge kennenlernen wird und sie weiterhin betreut werden wird und sie, trotz all der Schwierigkeiten, eine Chance hat, den Kreislauf der Enttäuschungen ihres bisherigen harten Lebens zu durchbrechen.

Der größte Wunsch: Wieder zur Schule zu gehen

Selma* ist 10 Jahre alt. Sie überlebte eine Bombardierung ihres Dorfes, doch ihr Cousin nicht – sie sah seinen Kopf an ihren Füßen vorbeirollen. Seitdem hat sie einen kahlen Fleck auf ihrem Kopf, wo sie einige Haare verloren hat. Anfangs zeichnete sie großartige, erstaunlich detaillierte Bilder, wofür sie allerdings von allen verfügbaren Farben nur den schwarzen Filzstift verwendete. Erst nach und nach ergänzte sie weitere Farben, und ihr finales Werk ist ein richtiger Regenbogen. Sie zeichnet Ali, den Waschbär aus einem Arbeitsbuch für traumatisierte Kinder, der wieder mit seinen Freunden spielt, nachdem er etwas zur Ruhe kommen konnte.

Seitdem beginnen Selmas Haare wieder zu wachsen. Sie erklärt mir, dass es für sie nicht mehr notwendig sei, zu mir zu kommen – auch wenn ihre tiefschwarzen Augen voller Tränen sind, als sie das sagt. Ich antwortet ihr, dass ich sie immer in meinem Herzen tragen werde, auch wenn wir uns nicht mehr sehen – was in diesem Moment sehr hart war, wie ich zugeben muss. Ihr Vater, der während dieser Beratung dabei ist, erklärt rührend, wie stolz er auf sie und ihren Fortschritt sei. Kurz darauf ziehen sie nach Erbil um; sie leben in keinem Zelt mehr sondern in einem tatsächlichen Haus, und Selma wird bald wieder zur Schule gehen können – ihr größter Wunsch.

Hoffnung trotz unendlicher Trauer

Mustafa* ist 27 Jahre alt und seit zwei Jahren von der Hüfte abwärts gelähmt, nachdem er im Gefängnis wochenlang gefoltert worden war. Er schildert seine symbolhaften Träume von Freiheit, seine erste verlorene Liebe, sein mit Beharrlichkeit durchgeführtes tägliches Training auf den schlammigen Wegen des Lagers, seinen Stolz, dass man ihn sucht, um bei Hochzeiten zu singen. Er erzählt mir auch von seinen Selbstmordgedanken – was ist überhaupt der Sinn und Zweck von so einem Leben? ‚Es wird nie wieder so sein wie früher.‘ Sein hübsches Gesicht ist durch eine unendliche Traurigkeit gezeichnet, er spricht so viel über seine Beine wie über sein Heimatland, doch sein umwerfendes Lächeln kehrt zurück und erhellt seine honigfarbenen Augen als ich ihm sage: ‚Wir sehen uns nächsten Dienstag!‘

Nach und nach entdeckt er in unseren Sitzungen Hoffnung für seine Zukunft. Eines Tages gibt er glücklich bekannt, dass er sich wieder verliebt habe und eine junge Frau heiraten möchte, die er im Lager getroffen hat. Er vergisst beinahe seine Wut darüber, dass er nie wieder gehen wird können.

Traumabewältigung für die Erwachsenen von morgen

Sie sind alle im Alter zwischen neun und zwölf Jahren und kommen fröhlich zu den wöchentlichen Gruppensitzungen, die ich nach der Schule organisiere. Ihr Lehrer hat mich vorgestellt und diejenigen unter ihnen identifiziert, die unter psychologischen Problemen leiden. Als Zeugen des Krieges in Syrien haben diese Kinder Familienangehörige verloren, mussten fluchtartig ihr Zuhause verlassen, haben manchmal Alpträume und setzen verschiedenste Möglichkeiten ein, um gegen die Trauer und das Unverständnis der Situation anzukämpfen. Ich bin immer wieder fassungslos, mit welcher Genauigkeit diese Kinder des Krieges eine Kalaschnikow oder einen Panzer zeichnen können, Kampfflieger, die in Flammen aufgehen oder Körper, die in ihrem eigenen Blut liegen…

Während der Sitzungen erleben sie die Möglichkeit, ihre erschütternden Erlebnisse zu teilen, Verbündete und Freunde zu finden, und ihre eigenen Gefühle auszudrücken. Durch die von mir vorgeschlagenen gemeinschaftlichen Zeichen-Übungen erkennen sie, dass es für sie viel schwieriger ist, ihre Erfahrungen mit Frieden darzustellen als jene mit Krieg! Durch die vielen zeichnenden Hände verstehen sie, dass sie alle dasselbe Trauma durchlebt haben. Sie sind nicht umsonst auf dieser Welt, und ihre Rache besteht darin, dass sie es selbst in der Hand haben, wieder Kräfte aufzubauen, und sie trotz ihrer individuellen Erfahrungen einander helfen können.

Ich habe großes Vertrauen in die syrischen Kinder von heute, die Erwachsenen von morgen. Doch die bevorstehenden Aufgaben werden für sie lang und schwierig sein.“

* Namen wurden geändert.