Flashbacks, Alpträume, Babykleidung: Psychologische Unterstützung im Konflikt

Einsatzbericht der Psychologin Audrey Magis
02.05.2013
Ärzte ohne Grenzen-Psychologin Audrey Magis.
MSF
Syrien, 02.05.2013: Ärzte ohne Grenzen-Psychologin Audrey Magis.

Audrey Magis, eine belgische Psychologin, ist vor kurzem aus Syrien zurückgekehrt, wo sie zwei Monate lang  in einem Projekt von Ärzte ohne Grenzen im Norden des Landes ein Programm zur psychologischen Betreuung eingerichtet hat. Zuvor hat sie Einsätze in Gaza, in Libyen und in einem Lager für syrische Flüchtlinge geleitet.

Wie bist du als Psychologin von der syrischen Bevölkerung an deinen Einsatzorten aufgenommen worden?

Im Allgemeinen spüre ich eine gewisse Zurückhaltung, wenn ich erkläre, ich sei Psychologin. In Syrien jedoch war das überhaupt nicht der Fall. Die Reaktionen waren sehr positiv. Dieser Krieg dauert nun schon zwei Jahre, und die Menschen wissen nicht mehr, was sie tun sollen. Am Anfang, wenn sie vorbeikommen, da sprechen sie von kleinen sozialen Problemen: Die Kinder gehen nicht mehr zur Schule, sind wild und ausgelassen, die Erwachsenen haben keine Arbeit, die Menschen wohnen in Zelten, oder mehr als zehn Personen müssen sich ein einziges Zimmer teilen. Diese beengenden Verhältnisse schaffen Konflikte… Aber wenn man etwas näher auf die Menschen eingeht, merkt man, dass die meisten von ihnen traumatisiert sind: Sie haben Angehörige verloren, mussten mit ansehen, wie ihr Haus zerstört wurde, haben Bombenangriffe miterlebt.

Wie manifestiert sich die psychische Verfassung der Flüchtlinge?

Die Menschen finden sich nicht mehr zurecht. Die Männer finden ihren Platz in der Familie und in der Gemeinschaft nicht mehr: Sie haben ihre Arbeit verloren, sie sind nicht mehr im Krieg, sie haben für ihre Familie zu sorgen, mussten immer wieder den Aufenthaltsort wechseln… Sie kommen freiwillig zu uns und bitten uns um Unterstützung. „Ich beginne meiner Frau und meinen Kindern gegenüber gewalttätig zu werden. Man muss etwas unternehmen, ich darf nicht so sein.“

Ich habe viele Frauen gesehen, denen es zunehmend schwerfällt, eine Beziehung zu ihren Kindern herzustellen. Es gibt keinen Zugang zur Abgabe von Verhütungsmitteln mehr, und manche Frauen wurden ungewollt schwanger. Sie haben Schwierigkeiten, sich eine Zukunft mit ihrem Kind vorzustellen. Ich habe einige getroffen, die kurz vor der Niederkunft standen und nichts vorbereitet hatten: kein Kinderbettchen, keine Kleider, keinen Vornamen. Derweil spielen die Kinder Krieg. Sie spielen nicht mit kleinen Autos oder beschäftigen sich, wie es für Kinder in normalen Zeiten üblich ist. Sie spielen totschießen. Ich habe Kinder gesehen, die Esel mit Steinen bewarfen, Tiere quälten. Sie geben so ihrer ganzen Verzweiflung und Wut  Ausdruck. Die Tatsache, dass sie Krieg spielen, ist ein normaler Mechanismus: auf diese Weise können sie Stress abbauen.

Ich habe auch junge Männer getroffen, so zwischen 20 und 30 Jahren, die im Bürgerkrieg gekämpft hatten und die zu mir kamen, da sie depressiv waren, traumatisiert. Sie hatten Flashbacks, Alpträume.

Es gab auch Leute, die mir inoffiziell sagten, sie wüssten nicht mehr, warum Krieg sei. Sie sind schockiert von der Vorstellung, dass sie heute gegen ihre Nachbarn, ihre Freunde kämpfen. Sie verstehen nichts mehr. Am Anfang sah es so aus, als mache dieser Krieg Sinn, aber nach zwei Jahren ist das nicht mehr der Fall. Sie wollen einzig, dass das aufhört und sie nach Hause zurückkehren können.

Der Bruch ist schon lange passiert. Die Leute sind von einem Autopiloten gesteuert. Doch sie erlauben sich nicht aufzugeben. Sie können das einfach nicht. Sie haben unglaubliche Widerstandskräfte entwickelt. Zwei Jahre unter derartigen Bedingungen zu überleben, ist schon eindrücklich. Es gibt eine enorme Unterstützung innerhalb der Familie und der Gemeinschaft. Die Solidarität hilft ihnen dabei, sich selber zu übertreffen. Man muss dazu sagen, dass die syrische Gastfreundschaft wirklich bewundernswert ist. Wenn ich die Flüchtlingslager nahe der Grenze besuchte, bestanden die Leute darauf, dass ich das Essen – ihr einziges am Tag! – mit ihnen teilte. Das ist wirklich unglaublich.

Was kann psychologische Unterstützung bewirken?

Manchmal reicht eine einzige Sitzung. Es gibt Menschen, denen genügt es zu wissen, dass das, was ihnen passiert, normal ist und dass sie deshalb nicht verrückt sind. Und es gibt Personen, die man über längere Zeit betreut. Man versucht, mit ihnen ein Ziel zu definieren und sich diesem schrittweise mithilfe von bestimmten Verhaltenstechniken zu nähern. Man hat einfach keine Zeit für längere Analysen. Doch man kann mit dieser Art Kurztherapie sehr gute psychologische Arbeit machen. Eine im sechsten Monat schwangere Patientin kam ins Krankenhaus, da sie vorzeitig gebären wollte. Es gab dafür keine medizinischen Gründe. Sie wünschte einen Kaiserschnitt und dass man sie von ihrem Baby befreie. Sie war sehr angespannt, sehr aufgewühlt. Da sind wir gemeinsam zur Auffassung gekommen, dass das Kind einfach zu viel war, ein Kriegskind; dass sie das Gefühl hatte, das Kind nehme ihr jede Energie. Alles, was sie wollte, waren Anxiolytika, also Medikamente gegen ihre Ängste, aber das ging nicht wegen ihrer Schwangerschaft. Und wir haben die Behandlung abgeschlossen, indem wir die Ankunft des Kindes miteinander vorbereiteten. Zu unserer letzten Sitzung hat sie Kleidchen für ihr Kind mitgebracht. Sie hatte zwar noch keinen Namen für ihr Baby, doch hatte sie deutliche Fortschritte gemacht. Das war an meinem letzten Tag, sie war meine letzte Patientin. Ich bin abgereist mit dem Gefühl, es hat sich gelohnt hierherzukommen.