Einer unserer ukrainischen Einsatzmitarbeiter berichtet über seine derzeitige persönliche Situation und zeigt, wie Krieg nicht nur Gebäude und Straßen, sondern auch Menschenleben, Hoffnung und Träume zerstört.
17.03.2022

Als am 24. Februar in Kiew die Dämmerung anbrach, hörte ich Explosionen und Fliegeralarm. Sofort wusste ich, dass mein Leben – wie auch das Leben von vielen anderen – nie mehr das gleiche sein würde. 

Der letzte Funken Hoffnung, den viele von uns noch gehegt hatten, war nun endgültig ausgelöscht.

Aleksandr Burmin (Name geändert) arbeitet für uns in der Ukraine.

Ich bin in einem Kohlegebiet der heutigen Ostukraine aufgewachsen. Wir waren eine große Familie. In unserer Dreizimmerwohnung verbrachten wir viele vergnügte Abende bei Olivensalat und Borschtsch. Nach meinem Sprachstudium in Horliwka habe ich die Ukraine verlassen, um in die USA zu gehen. Doch meiner Familie wegen kehrte ich schließlich wieder in meine Heimat zurück.

2014 brach der Krieg aus...

...und ich musste nach Kiew ziehen, wo ich mich als intern Vertriebener registrierte. Nach einer Weile hatte ich mich in der Stadt eingelebt und begann, für zivilgesellschaftliche Organisationen zu arbeiten. Mit einer weltweiten Vereinigung engagierte ich mich bei der Bekämpfung von Armut. Schließlich führte mich mein Weg zu Ärzte ohne Grenzen. Der Fokus der Organisation lag auf einem verbesserten Zugang zu Gesundheitsversorgung in der Ostukraine – der Region, die mir immer noch sehr am Herzen lag, auch wenn ich nun in Kiew lebte.

Die Tragödie, die sich damals in der Ostukraine ereignete, ist heute auf das ganze Land übergeschwappt. In kürzester Zeit wurden Millionen von Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Viele sind Binnenvertriebene und rund zwei Millionen sind in die umliegenden Länder geflüchtet.

Der Krieg ist zurück – und zwar mit solcher Kraft und Brutalität, dass ich befürchte, dass wir alle schwere Schäden davontragen werden.

Aleksandr Burmin (Name geändert) arbeitet für uns in der Ukraine.

Erneut vertrieben

Auch ich selbst bin nun wieder ein Vertriebener. Als es in Kiew zu massiven Luftangriffen und Strassengefechten kam, traf ich die schmerzliche Entscheidung, die Stadt zu verlassen. Zunächst war ich noch geblieben, auch als schon Hunderttausende die Stadt verließen. Tagelang hörte ich nur den Lärm der einschlagenden Granaten, Raketen und Schüsse. Aber als mich eines Tages meine Kolleg:innen anriefen und mir sagten, dass bald die letzten humanitären Konvois Kiew verlassen würden, geriet ich in Panik. Schnell stopfte ich ein paar Kleider in eine Tasche, suchte die wichtigsten Dokumente zusammen und verlies die Stadt mit meinem Auto.

Nun bin ich also auf der Flucht – inmitten der riesigen Menschenströme, die sich Richtung Westen des Landes bewegen. Ich fühle mich verloren und orientierungslos. Ich bin fassungslos über das sinnlose Leiden, das viele erdulden müssen. Ich darf gar nicht daran denken, was als Nächstes kommt.

Ich bin wütend auf diesen furchtbaren Krieg.

Aleksandr Burmin (Name geändert) arbeitet für uns in der Ukraine.

Dennoch geht es mir immer noch besser als meinen Bekannten in der Ostukraine, die momentan die Hölle durchleben. Das eingekesselte Mariupol, Wolnowacha, das nur noch eine Geisterstadt ist… Auch Schulen, Spitäler und Wohngebäude gerieten unter Beschuss.

Alles, was seit dem Krieg 2014 in der Ostukraine aufgebaut wurde, ist wieder weg.

Aleksandr Burmin (Name geändert) arbeitet für uns in der Ukraine.

Es wird ein langer Weg.

Tatsächlich hatte die Ostukraine in letzter Zeit an der Stärkung ihrer Infrastruktur und öffentlichen Dienste gearbeitet; selbst Hilfsorganisationen setzten wieder vermehrt auf Entwicklungsförderung, anstatt Nothilfe zu leisten. Auch als Ärzte ohne Grenzen waren wir immer mehr dazu übergegangen, das öffentliche Gesundheitssystem zu unterstützen, anstatt direkt Gesundheitsleistungen anzubieten. So hatten wir ein Netzwerk aus Freiwilligen aufgebaut, die den Menschen in abgelegenen Regionen – häufig älteren Personen – dabei halfen, sich frühzeitig behandeln zu lassen und an Medikamente zu kommen.

Meine Arbeit bei Ärzte ohne Grenzen ist nun angesichts dieser komplett veränderten Situation nicht mehr möglich. Vielen meiner Kolleg:innen ergeht es genauso. Doch selbst unter den widrigsten Umständen haben sie alles gegeben, um medizinische Nothilfe zu leisten.

Ich selbst möchte auch mehr tun, um zu helfen. Aber ich bin in einem Strudel gefangen, wo nichts mehr so ist, wie es vorher war.

Eines Tages werden wir unsere ganzen Kräfte aufwenden müssen, um uns davon zu erholen, was uns im Moment widerfährt.

Aleksandr Burmin (Name geändert) arbeitet für uns in der Ukraine.

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