Nachtschicht im Flüchtlingslager Batil

Bericht und Fotoreportage aus dem Südsudan
16.10.2012
Suedsudan 2012
Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 20.08.2012: Mediziner Dr. Roberto Scaini im Krankenhaus des Lagers Batil.

Mehr als 170.000 Flüchtlinge aus den sudanesischen Bundesstaaten Südkordofan und Blue Nile haben die Grenze überquert. Sie leben nun in fünf Lagern in entlegenen und schwer erreichbaren Regionen im Südsudan. Viele Flüchtlinge sind nach oft wochenlangem Marsch in geschwächtem Zustand angekommen, die Gesundheitssituation in den Lagern schwankt in den letzten Monaten zwischen schlecht und katastrophal.

So erreichte etwa die Sterblichkeitsrate im Juli 2012 im Lager Batil mehr als das Doppelte des Schwellenwerts, ab dem von einer akuten Krisensituation gesprochen wird. Nahezu die Hälfte aller Kinder unter zwei Jahren im Lager war mangelernährt und Ärzte ohne Grenzen erklärte im August 2012 den Gesundheitszustand im Lager als katastrophal .

Seit im November 2011 die ersten Flüchtlinge ankamen, ist Ärzte ohne Grenzen der Hauptanbieter gesundheitlicher Versorgung in diesen Lagern. Als sich die Situation zunehmend verschlechterte, reagierte die Organisation auf diesen Notfall und fokussierte die Arbeit auf die dringendsten lebensrettenden Maßnahmen. Durch dieses schnelle Eingreifen konnte die Sterblichkeitsrate im Lager Batil deutlich reduziert werden. Trotzdem bleibt die Lage der Flüchtlinge ein Notfall, da sie zu 100 Prozent auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Um weiterhin Leben zu retten, muss rund um die Uhr gearbeitet werden.

Dr. Roberto Scaini liefert Einblicke in eine typische Nachtschicht in der Klinik von Ärzte ohne Grenzen im Flüchtlingslager Batil.

Die Nacht wird hier im Krankenhaus als kritischer Moment betrachtet.

Wir beginnen mit einer Runde durch die Stationen, damit mir die Ärzte und Ärztinnen der Tagesschicht über ihre Patienten und Patientinnen berichten können. Letzte Nacht begannen wir mit einem Mann in stationärer Behandlung, der gerade mit Verdacht auf Meningitis gebracht worden war. Wir machten eine Lumbalpunktion, bei der wir eine Probe der Rückenmarksflüssigkeit entnahmen. Doch das Ergebnis lieferte keinen eindeutigen Beweis, was bedeutete, dass weitere Labortest durchgeführt werden müssen. Der Zustand des Patienten war sehr kritisch.

 

Non-stop Versorgung

 

Der andere Ort über den ich Bescheid wissen muss, ist die Intensivstation für stark mangelernährte Menschen. In der letzten Nacht waren alle Patientinnen und Patienten stabil, außer einem Mädchen, das sehr dehydriert war und an ständigem Durchfall litt. Wir mussten ihr eine spezielle Flüssigkeit zuführen, um zu ersetzen, was sie durch den Durchfall und das Erbrechen verloren hatte. Außerdem mussten wir sie jede Stunde wiegen, weil wir ihr eine große Menge der Flüssigkeit verabreichen. Ein Zuviel würde ihr System so sehr belasten, dass das gefährlich für das Mädchen werden kann. Diese Kinder sind so schwach, dass wir ihnen die Flüssigkeit sehr langsam mit einer Spritze verabreichen müssen. Man muss dies die ganze Nacht über sehr vorsichtig machen, Flüssigkeit verabreichen, das Gewicht überprüfen, warten, Flüssigkeit verabreichen, das Gewicht wieder überprüfen...

 

Man muss fokussiert bleiben

 

Die Patienten und Patientinnen, die sich in einem instabilen Zustand befinden, werden oft während der Nacht sehr krank. Und das kann sehr schwierig werden. Man muss ganz fokussiert bei den allerkritischsten Fällen bleiben. Wenn man einen schwachen Patienten zu lange unbeaufsichtigt lässt, kann sein Zustand sehr instabil werden und der Patient sterben.

In gewisser Weise bekommt man während der Nachtschicht eine viel stärkere Verbindung zu den Patienten und dem medizinischen Personal. Für mich ist es eine seltsame und ziemlich magische Zeit; alles ist ruhig nach dem Lärm und der Aufregung des Tages, nur das Geräusch des Generators und des Regens, und man kann für eine kurze Pause inne halten und mit den Kollegen aus dem Sudan und dem Südsudan eine Tasse Kaffee trinken. Zwischen den Notfällen hat man die Möglichkeit anzuhalten und nachzudenken.

 

Plötzliche Notfälle

 

Aber wir haben immer einige Patienten, die sehr krank sind, deren Zustand innerhalb weniger Sekunden von stabil zu sehr kritisch wechseln kann. Neulich hatte ein Mädchen, das wir wegen schwerer zerebraler Malaria behandelten, plötzlich starke Krämpfe. Das bedeutete zwei Stunden Hochbetrieb. Wenn ein Kind einen Krampfanfall hat, kann dies zu Atmungsproblemen führen. Man muss den Krampf sofort beenden, da der Sauerstoffmangel Hirnschäden verursachen kann. Wir ergriffen die üblichen Maßnahmen in so einer Situation, doch dann hörte sie plötzlich zu atmen auf. So mussten wir sie mit einer Beatmungshilfe manuell beatmen, aber dies war sehr schwierig, weil sie so schwere Krämpfe hatte, sie zitterte und sich krümmte.

 

Schwere Entscheidungen

 

Die Entscheidung war schwierig, denn die Nebenwirkung des Medikaments, das die Anfälle stoppt, ist eine Verringerung der Atemfrequenz des Patienten. Wir mussten die Krämpfe jedoch stoppen und verabreichten der Patientin das Medikament, obwohl es ihre Atmung beeinflusste. Nach etwa 25 Minuten konnten wir die Krämpfe stoppen, aber die lange Dauer des Anfalls erhöhte das Risiko für Hirnschäden. Während der ganzen Zeit mussten wir zusätzlich beatmen, denn wenn man damit für zwei bis drei Minuten aufhört, kann ein Patient sterben.

 

Manchmal haben wir Glück

 

An einem Punkt begann ich daran zu denken, dass das Mädchen acht Jahre alt ist, so alt wie meine eigene Tochter. Ich denke, das hat mir irgendwie geholfen weiterzumachen, und ich beatmete das Kind 40 oder 45 Minuten lang, was wirklich sehr anstrengend ist. Und dann bewegte sich plötzlich ihr Brustkorb, ich hörte auf und sie atmete zur Hälfte von alleine. Da fuhr ich eine Zeit lang mit der Beatmung fort und ganz langsam begann sie wieder, alleine zu atmen. Für den Rest der Nacht war sie bewusstlos aber stabil.

Als ich am nächsten Abend um sechs Uhr wieder nach ihr sah, saß sie und trank. Dann hörte sie auf und lächelte mich an. Sie muss mich erkannt haben. Ich machte ein paar schnelle Untersuchungen und ja, ihr Leben war gerettet. Und wie es aussieht, ohne ersichtliche Hirnschäden. Ich glaube nicht an Wunder, aber manchmal haben wir Glück.

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Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 20.08.2012: Dr. Roberto übergibt an die Tagesschicht.
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Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 20.08.2012: Bei Tagesanbruch kommen die ersten PatientInnen in die Ambulanz.
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Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 20.08.2012: Dr. Roberto füllt das letzte Krankenblatt aus.
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Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 19.08.2012: Die Dämmerung markiert das Ende einer langen und anstrengenden Nacht im Krankenhaus.
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Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 19.08.2012: Dr. Roberto verwendet eine Spritze, um einem mangelernährten Kind mit Durchfall Flüssigkeit zu verabreichen.
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Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 19.08.2012: Schwer mangelernährte Kinder mit Durchfall müssen die ganze Nacht hindurch rehydriert werden.
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Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 19.08.2012: Und Überprüfung der Sauerstoffsättigung im Blut desselben Kindes.
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Batil, Südsudan, 19.08.2012: Überprüfung der Herzfrequenz eines Kindes auf der Intensivstation.
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Batil, Südsudan, 19.08.2012: Dr. Roberto am Bett eines schwer kranken Patienten.
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Batil, Südsudan, 19.08.2012: Als es Mitternacht wird, sind nur der Generator und manchmal der Regen, der auf die Zelte fällt, zu hören.
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Batil, Südsudan, 19.08.2012: Dr. Roberto beginnt die Untersuchungen der PatientInnen in stationärer Behandlung.
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Batil, Südsudan, 19.08.2012: Krankenschwestern bereiten die therapeutische Milch für die schwer mangelernährten Kinder auf der Intensivstation vor.
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Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 19.08.2012: Dr. Roberto Scaini tritt seinen Dienst an, die MitarbeiterInnen der Tagesschicht informieren ihn über den Zustand der kritischen PatientInnen.
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Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 20.08.2012
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Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 20.08.2012: Wenn die Nacht hereinbricht, werden im Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen die Lichter aufgedreht, alles ist bereit für die Nachtschicht.
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Olga Overbeek/MSF
Batil, Südsudan, 20.08.2012: Ein Moment des Nachdenkens vor dem Versuch trotz des Lärms und der Betriebsamkeit im Krankenhaus ein wenig zu schlafen.