Eine Epidemie in Zeiten der Pandemie

Kinderkrankenschwester Vera Schmitz war Teil unseres Teams, das im Schatten der neuen Bedrohung durch COVID-19 Tausende von Kindern gegen eine tödliche Masernepidemie in der Demokratischen Republik Kongo geimpft hat. Im Blog erzählt sie, was sie erlebt hat:
Kommentar von Vera Schmitz
09.06.2020

 

MSF/Carol Bottger
Familien warten auf eine Impfung vor einer Kirche in Zongo, Sud-Ubangi, Demokratische Republik Kongo. Die Warteschlange ist mit dem nötigen COVID-19 Abstand angelegt.

Kinderkrankenschwester Vera Schmitz war Teil unseres Teams, das im Schatten der neuen Bedrohung durch COVID-19 Tausende von Kindern gegen eine tödliche Masernepidemie in der Demokratischen Republik Kongo geimpft hat.

Ansteckende Krankheiten sind in der Demokratischen Republik Kongo nichts Neues: Ebola. Masern. Cholera. Immer wieder gibt es Ausbrüche, immer wieder erkranken und sterben zahlreiche Menschen.

Nichts Neues – nicht für den Kongo und nicht für uns als Mitarbeiter:innen von Ärzte ohne Grenzen, die wir seit Jahrzehnten hier im Land tätig sind.

Nichts Neues auch für mich – seit November bin ich im Kongo unterwegs. Anfangs aufgrund von Ebola, seit Ende Januar im Rahmen der Masernepidemie. Drei Impfkampagnen haben wir seither durchgeführt und über 82.000 Kinder geimpft. Immer wieder dasselbe also, könnte man denken. Immer wieder dasselbe ? Nun ja, nicht ganz.

Natürlich ist keine Intervention wie die andere. Eine andere Provinz, ein anderer Ort, andere Menschen und andere Umstände. Stadt oder Land machen einen großen Unterschied. Den größten oder doch zumindest den spürbarsten Unterschied macht heute aber die aktuelle COVID-19 Pandemie.

Dabei gibt es in den beiden Provinzen unserer Einsatzorte (noch) keine bestätigten Fälle. Doch die Angst der Menschen ist greifbar und sie ist überall.

Nach unserer Ankunft in der Provinz Sud Ubangi im Nordwesten des Landes war die erste Reaktion der Bevölkerung die Sorge vor COVID-19. Ein positiver Fall in ihrer Stadt - das schien für viele der wahrscheinlichste Grund für das Erscheinen von Ärzte ohne Grenzen.

Es gibt viele Zweifel, viele Unsicherheiten. Diese ernst und wichtig zu nehmen, ist unabdingbar.

Die Welt ist fest im Griff des Coronavirus – und sie hält den Atem an. Sie hält den Atem an und versucht mit allen Mitteln dem Virus entgegenzustehen. Das ist richtig und wichtig, vor allem solange es weder Medikamente noch einen verlässlichen Impfstoff gibt – global und für alle Menschen verfüg- und leistbar.

Doch dabei darf eins nicht vergessen werden – “nur” aufgrund einer Pandemie, verschwinden andere Krisen nicht einfach. Die Masern im Kongo sind eine Epidemie in einer Pandemie. Diese zu ignorieren, wäre fatal. Den Atem anhalten, sich neu sortieren, neue Prioritäten setzen – ja! Doch ein Atemstillstand wäre eine Katastrophe. Wenn erst alles zum Erliegen kommt, doch dies plötzlich mit Getöse auf uns einstürzt, weil uns der Sauerstoffmangel nach einiger Zeit doch zum Atmen zwingt. Wenn wir die Masern jetzt ignorieren – dann riskieren Patient:innen später Co-Infektionen mit Masern und COVID-19, plus eine zusätzliche Belastung des ohnehin schon geschwächten Gesundheitssystems.

Und noch etwas anderes darf inmitten aller berechtigten Fragen, ob dies nun wirklich der beste Zeitpunkt für eine Massenimpfkampagne sei, nicht vergessen werden: Hier in Sud Ubangi ist Covid-19 derzeit noch “nur” eine Bedrohung. Die Masern sind real. Kinder sterben daran. Und das Tragische: Es wäre vermeidbar. Es gibt einen Impfstoff. Daher müssen wir jetzt alles tun, um die aktuelle Epidemie zu stoppen, um so viele Kinder wie möglich jetzt und für später gegen diese tödliche Krankheit zu schützen.

Doch haben wir auch den Auftrag, niemanden einem vermeidbaren Risiko auszusetzen. Darum haben wir uns der Situation angepasst. Social distancing inmitten einer Impfkampagne klingt paradox – aber nicht unmöglich.

Die Warteschlangen sind abgetrennt, extra schmal und extra lang – um die Menschenmassen auseinanderzuziehen. Familien sind angewiesen, Abstand voneinander zu halten – und ja, das funktioniert! Ein großer verpflichtender Händewaschstützpunkt ist vor dem Betreten für alle Eltern und Kinder eingerichtet worden. Die Orte, an denen wir impfen – üblicherweise Kirchen, Schulen oder auch ein bedachter Unterstand – sind i.d.R. besonders groß und bieten genügend Platz. Dies ermöglicht den nötigen Abstand zwischen den verschiedenen Stopps, wie Registrierung, Impfung, Datenerfassung – ein Kreislauf, der nur in eine Richtung funktioniert. Aufgestocktes Personal erlaubt uns zudem eine bessere Kontrolle und Einweisung der Bevölkerung. Außerdem ist jenes Personal, welches in direktem Kontakt mit den zu impfenden Kindern steht, mit entsprechender Schutzkleidung ausgestattet.

Doch fast noch wichtiger ist die verstärkte Kommunikation und Sensibilisierung der Bevölkerung. Alle kennen die Masern – aber COVID-19 ist neu und alle Unwissenheit und Zweifel über das neue Virus schlagen sich hier nieder. Falsche Gerüchte in den Medien haben dazu geführt, dass ein starkes Misstrauen gegen Impfungen generell entstanden ist. Es bedarf also besonders viel sensibler Aufklärung. So arbeiten wir nun eng mit einflussreichen Persönlichkeiten aus den verschiedenen Bevölkerungsschichten zusammen, lassen diese in vielgehörten Radios zu Wort kommen. Während der Impfkampagne selbst geht ein Teil des Teams von Tür zu Tür, um im direkten Gespräch Fragen zu beantworten und Zweifel auszuräumen.

Ich hoffe sehr, dass sich die Pandemie in dieser Region doch irgendwie noch in Grenzen hält. Und dass die Welt wieder zu atmen beginnt. Die Luft wird anders riechen, es ist eine neue Normalität, an die wir uns alle gewöhnen müssen. Doch können wir es uns alle nicht leisten, den Atem anzuhalten, die anderen Krisen zu vergessen. Wir werden neue Wege finden müssen, diese zu bewältigen. Doch es ist auch eine Chance – eine Chance, Neues zu lernen, sich auf Wichtiges zu besinnen und sich gegenseitig solidarisch zu zeigen. Denn Solidarität bräuchen wir derzeit wohl alle.

 

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