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Kapitel 1: Leben als Straßenkind in Kamerun
"Nichts hatte sich geändert, da wollte ich für immer gehen"
Ich komme aus Baloum, in der Region Menoua im Westen Kameruns. Mein Dorf liegt auf dem Land. Hier gibt es nur Bäume und Hütten. Es ist immer kühl, weil es von Bergen umgeben ist. Ich lebte bei meiner Mutter. Mein Vater starb, als ich zwei Jahre alt war. Ich erfuhr das erst, als ich sieben war. Meine Mutter heiratete wieder und ihr neuer Mann misshandelte mich. Manchmal verließ ich das Haus und schlief auf der Straße. Meine Großmutter fand mich jedes Mal schnell wieder und holte mich zurück nach Hause.
Auf der Straße verbrachte ich viel Zeit mit anderen jungen Menschen, die wie ich waren: Von zu Hause rausgeschmissen oder aufgrund von Misshandlung gezwungen zu gehen. Als ich mein zuhause zum ersten Mal länger verlies, war ich elf. Ich verbrachte einige Monate im Freien, dann kam ich zurück. Nichts hatte sich geändert, da wollte ich für immer gehen.
Mit meinen Freunden auf der Straße fühlte ich mich wohl, ich fühlte mich frei.
Alles, was ich zu Hause erlebt hatte - all die Gewalt - war auf der Straße Vergangenheit.
Wir schliefen in kleinen Schuppen oder unter Marktständen. Wir bettelten auf dem Markt um Essen: "Madame, entschuldigen Sie, wir haben Hunger, wir haben nicht genug zum Überleben.“
Einige Leute ließen sich von uns gegen etwas Geld helfen. Die Verkäufer:innen am Markt baten uns, die Waren auszuladen oder nachts ihre Stände zu bewachen. Tagsüber liefen wir viel herum und hatten Spaß.
"Ich werde dir aus deiner misslichen Situation helfen."
Im Alter von 11 bis 13 Jahren war ich abwechselnd auf der Straße, im Haus meiner Mutter und bei meiner Großmutter, später dann nur noch auf der Straße. Einige Leute aus meinem Dorf versuchten, mir zu helfen. Ich freundete mich mit einem Mann an, der mich ein wenig wie seinen Sohn betrachtete. Er sorgte sich um mich und brachte mich dazu, zur Kirche zu gehen.
Die Kirche lag direkt neben einer Schule und wir Straßenkinder besuchten hin und wieder ein paar Schulstunden. Einige Leute versuchten, uns Ratschläge zu geben, wie wir uns auf der Straße schützen konnten. Wir vermieden es aber, uns zu sehr an Menschen zu binden. Viele meiner Freunde auf der Straße verschwanden. Wir waren verletzlich, einige Leute nutzten das aus.
Ihr fragt euch sicher, wie es denn dazu kam, dass ich in Paris gelandet bin? Die Geschichte ist noch länger. Der Mann, mit dem ich mich angefreundet hatte, nahm mich manchmal übers Wochenende mit zu sich nach Hause. Er wurde für mich wie Familie. Er hatte einen Laden auf dem Markt, in dem er alles Mögliche verkaufte. Er bot mir oft Essen an.
Eines Tages sagte er zu mir: „Du lebst auf der Straße, aber ich glaube, du bist ein bisschen anders als deine Freunde, also werde ich versuchen, dir aus deiner misslichen Situation zu helfen.“
Der Weg in den Tschad
Ich war noch nie außerhalb Kameruns gewesen. Ich kannte nichts außer Douala, Yaoundé und den Westen des Landes. Er schlug mir vor, in den Tschad zu gehen. Ich hatte in der Schule davon gehört. Er sagte mir, dass es dort eine Familie gäbe, bei der ich ein normales Leben führen könnte. Ich sagte zu.
Wir reisten im März oder April 2019 ab. Ich war froh über die Möglichkeit, wegzukommen, auch wenn ich nicht wirklich wusste, wohin wir gehen würden. Wir nahmen den Zug und dann den Bus. Als wir ankamen, waren die Menschen und die Landschaft ganz anders, und ich konnte sehen, dass ich nicht mehr in meinem Land war. Alles hatte sich verändert.
Er nahm mich mit zu einem Haus. Er sagte mir, dass hier seine Familie sei und dass ich dort leben und ein normales Leben führen würde.
Kapitel 2: Mensch als Ware
Die Sklavenhändler Libyens
Eines Nachts brachen wir zu einer Reise auf. Es war mitten in der Nacht, ich wusste nicht mehr, wo wir waren. Ich hatte Angst. Sie sagten mir, dass wir die Nacht in einem anderen Haus verbringen würden.
Als ich am nächsten Tag aufwachte, war ich von Fremden umgeben. Ich erfuhr, dass ich in Libyen als Sklave verkauft worden war. Ich war in einem Gefängnis. Es war ein großer Raum mit vielen Menschen darin, wie ein Hühnerstall mit Nichts als kleinen Löchern für Luft und Licht.
Jeden Morgen wurden wir in Lastwagen zur Zwangsarbeit gebracht.
Du musstest tun, was dir gesagt wurde oder wurdest getötet. Man wurde zu ihrem Eigentum. Im Gefängnis wurde ich oft gefoltert.
Die Flucht
Eines Tages wurden wir zur Arbeit nach Tripolis gebracht. Das war unsere Chance, zu fliehen, und wir nutzten sie, aber einige der jungen Fliehenden wurden von den Libyern getötet. Wir flohen, ohne zu wissen, wohin wir gehen sollten.
Wir liefen den ganzen Tag. In der Gruppe der Geflohenen gab es einen Jungen, mit dem ich mich gut verstand. Er wurde mein Begleiter. Wir überlebten, indem wir bettelten. Eines Tages sagte er mir, dass er wüsste, wie wir aus unserer Lage herauskommen könnten. Er sagte mir, wir müssten in eine bestimmte Stadt gehen, ich folgte ihm. Als wir dort ankamen, schleusten wir uns in eine Gruppe von Menschen, die in einem Schlauchboot nach Europa - genauer Italien - gelangen wollten.
Ich weiß nicht, wie ich nach Italien kam, da ich unterwegs das Bewusstsein verlor. Ich bin auf dem Schiff aufgewacht, das Migrant:innen aus dem Meer rettet.
Kapitel 3: Die Reise durch Europa
Ankunft in Italien - zurück auf die Straße
In Sizilien habe ich zum ersten Mal das Logo des Roten Kreuzes gesehen. Als wir von Bord gingen, setzten sie uns in Busse, die uns in eine Art Lager brachten. Wir bekamen neue Kleidung. Wir konnten uns waschen, anziehen, essen und seit langem wieder in einem Bett schlafen. Sie baten uns, Namen, Alter und Herkunftsland auf ein Stück Papier zu schreiben. Ich blieb dort eine Woche lang.
Dann steckten sie mich in eine Gruppe mit den anderen Minderjährigen. Sie sagten, sie müssten uns in eine Stadt namens Rom schicken. Wir waren dort eingesperrt, wir konnten nicht rausgehen. Wir aßen, wuschen uns und schliefen - sonst nichts. So war es jeden Tag. Wir fühlten uns damit nicht wohl, also beschlossen einige andere junge Leute und ich, wegzugehen. Wir lebten auf der Straße. Ich verstand allerdings kein Italienisch, bald beschlossen wir, nach Frankreich zu gehen.
"Zuallererst wollten wir den Eiffelturm sehen"
Französisch sprechende Afrikaner:innen halfen uns mit einer Wegbeschreibung: Rom verlassen, nach Mailand fahren, dann nach Ventimiglia, dann den Zug nach Frankreich nehmen. Wir fuhren ohne Fahrschein - wir hatten kein Geld. Im Zug wurden wir von der Polizei verhaftet.
Sie schickten uns zurück nach Italien. Dort liefen wir den ganzen Tag, um zurück nach Ventimiglia zu kommen. Andere Migrant:innen sagten uns, dass wir zu Fuß durch die Berge nach Nizza gehen könnten. Wir machten uns auf den Weg. Wir rutschten Schluchten hinunter, waren mit Schlamm und Dreck bedeckt. Als wir in Nizza ankamen, starrten uns alle an.
Wir liefen zur Hauptstraße und versteckten uns. Es war ungefähr fünf Uhr morgens. Wir warteten, bis der erste Bus vorbeifuhr. Wir nahmen ihn bis zur Endstation und fanden uns in Marseille wieder. Jemand empfahl uns, nach Paris zu fahren, also nahmen wir den Zug. Als der Schaffner vorbeikam, versteckten wir uns. Wir kamen gegen fünf Uhr nachmittags in Paris an. Wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten. Es war August oder September [2019]. Zuallererst wollten wir den Eiffelturm sehen. Aber wir sind an diesem Tag nicht mehr dort angekommen. Stattdessen haben wir uns verlaufen ...
Kapitel 4: Streifzüge durch Paris
"Was ist eine Psychologin?"
Wir wurden von der Polizei zum Roten Kreuz gebracht. Die Leute dort erkundigten sich nach meinem Hintergrund. Ich habe ihnen alles erzählt: Von den Misshandlungen, der Folter, der Flucht, der Zeit in Italien. Ich habe meine ganze Geschichte preisgegeben. Sie fragten mich, ob ich eine Psychologin brauche. 'Was ist eine Psychologin?', fragte ich.
Dort wurde mir auch geraten, zu einem Gericht zu gehen.
In dem Hotel, in dem ich untergebracht war, konnten wir nicht den ganzen Tag über bleiben. Wir durften erst um 19 Uhr rein, nur um zu essen, zu duschen und zu schlafen.
Ich wartete auf die Ergebnisse der Beurteilung des Gerichts. Ich weiß nicht, wer entschied, aber sie erkannten mich nicht als minderjährig an. Alles, was ich bekam, war ein weiteres Papier, um erneut zum Gericht zu gehen.
Leben im Zelt
Am Ausgang des Gerichts hielten mich Leute auf. An diesem Tag war ich das erste Mal bei Ärzte ohne Grenzen in Pantin. Die Leute brachten mich zu ein Mann namens Ali ins Büro. Er erklärte mir, dass sie das Verfahren fortsetzen und eine Akte anlegen würden, um beim Kinderrichter für mich Berufung einzulegen. “Das wird einige Zeit dauern", warnte er mich.
Danach gab mir die Organisation Utopia 56 [französische Organisation, die Migranten hilft] ein Zelt. Wir fuhren zu einem Hügel. Es war ein Geflüchtetenlager, viele Menschen schliefen dort. Ich baute mein Zelt in einer Ecke auf.
Ich kehrte zurück zu Ärzte ohne Grenzen, um meine Termine mit dem Sozialarbeiter und dem Psychologen wahrzunehmen.
Etwa zwei Monate lang habe ich in dem Zelt an der Porte d'Aubervilliers gewohnt. Es war sehr kalt. Wir hatten keine Heizung.
Ich hatte Angst, einzuschlafen, und am nächsten Tag nicht mehr aufzuwachen.
Erste Gedanken an eine Zukunft
Am 19. Dezember [2019] hatte ich einen Termin bei Ärzte ohne Grenzen in Pantin und man sagte mir, dass sie eine Unterkunft für mich gefunden hätten. Ich musste nicht mehr in einem Zelt schlafen. Ich hatte einen Platz in der Passerelle, einer von Ärzte ohne Grenzen betriebenen Unterkunft.
Ich wollte dort drei Monate bleiben und dann zu einer Gastfamilie gehen. Ich begann eine Weiterbildung. Wir hatten einmal pro Woche Französischunterricht und es wurden Aktivitäten und Schulungen angeboten.
Dort habe ich erstmals angefangen, über meine Zukunft nachzudenken. Ich hatte noch nie eine Ausbildung gemacht - ich dachte, das wäre doch schön. Ich würde gerne Logistik studieren und dann für eine humanitäre Hilfsorganisation arbeiten, um Menschen zu helfen, die das Gleiche durchmachen wie ich.
Ich denke oft an die Menschen, die ich auf meiner Reise getroffen habe, und daran, wie sie mir immer gesagt haben: "Es wird alles gut, es wird alles gut."
Kapitel 5: Ankommen
Als Minderjähriger anerkannt
Im März 2020, während des ersten Lockdowns, wurde ich als Minderjähriger anerkannt. Ich wurde in Obhut der Jugendsozialhilfe gegeben. Das bedeutete auch, dass ich nicht bei einer Pflegefamilie untergebracht werden würde.
Ende März 2020 erhielt ich den Beschluss vom Richter. Am nächsten Tag wurde ich an die SEMNA, Bildungsabteilung für unbegleitete Minderjährige, verwiesen. Sie fragten mich, wo ich lieber wohnen würde: in einer Wohnung mit anderen Jugendlichen oder in einem Heim. Ich hätte lieber bei einer Pflegefamilie gewohnt, aber das war nicht mehr möglich. Also entschied ich mich für die Wohnung. Mein Betreuer bei SEMNA schickte mein Profil an das Rote Kreuz. Ein paar Tage später wurde ich angenommen. Ich zog zwei Tage vor Ende des Lockdowns ein.
Wenn ich meine Geschichte erzähle, fühle ich mich befreit. Denn wenn ich allein bin, denke ich viel darüber nach.
Blick nach vorne
Die kleinen Momente, in denen ich mich gut fühle, sind, wenn ich allein zu Hause bin. Und wenn ich zu meiner Psychologin gehe. Auch wenn ich Aubervilliers besuche. Es war kein einfaches Leben dort, aber ich gehe gerne dorthin zurück.
In Aubervilliers sind weiterhin viele Menschen, aber nicht mehr dieselben wie damals. Ich sitze dort gern für einige Zeit. Wenn jemand kommt, setzt er sich neben mich und wir kommen ins Gespräch. Wir reden, wir versuchen herauszufinden, wer der andere ist. Wir reden über das, was wir durchgemacht haben.
Es ist wichtig, dass ich meine Geschichte erzähle. Dass ich erkläre, was ich durchgemacht habe. Alles, was ich will, ist ein normales Leben, einen Job. Etwas tun. Ich will eines Tages eine Familie. Ein Leben wie alle anderen auch.